Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Kappeler

 

Fashioning Modern Ukraine. Selected Writings of Mykola Kostomarov, Volodymyr Antonovych, and Mykhailo Drahomanov. Ed. by Serhiy Bilenky. Toronto, ON: CIUS, 2013. XLVI, 500 S., Abb. ISBN: 978-1-894865-32-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://external.dandelon.com/download/attachments/dandelon/ids/CH001C1C4E58769DD85AFC1257CA2003ED986.pdf

 

Wer an einer Universität Osteuropäische Geschichte unterrichtet oder studiert, weiß, wie mühsam es ist, geeignete Primärquellen zu finden. Da man nicht (mehr) voraussetzen kann, dass die Studierenden des Russischen, Polnischen und/oder Ukrainischen mächtig sind, ist man auf Übersetzungen ins Deutsche oder Englische angewiesen. So ist der vorliegende Band, der einige Schlüsseltexte zur ukrainischen Geschichte in englischer Übersetzung vereint, sehr willkommen, besonders auch deshalb, weil die russisch- und ukrainischsprachigen Originale schwer greifbar sind.

Der Herausgeber Serhiy Bilenky, der jüngst ein Buch über den romantischen Nationalismus in Russland, Polen und der Ukraine vorgelegt hat, präsentiert ausgewählte Schriften von drei hervorragenden Vertretern des ukrainischen kulturellen und politischen Lebens im 19. Jahrhundert. Mykola (Nikolaj) Kostomarov, Volodymyr Antonovyč und Mychajlo Drahomanov waren alle Historiker, Aktivisten der ukrainischen Nationalbewegung und gleichzeitig Mitglieder der russischen Diskursgemeinschaft.

Der Band enthält längere Auszüge aus den Autobiographien bzw. Memoiren der drei Persönlichkeiten, die einen ausgezeichneten Einblick in die Welt der ukrainischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts geben. Kostomarov (1817–1885) war einer der frühen Aktivisten und Ideologen der ukrainischen Nationalbewegung und später ein vielgelesener Petersburger Historiker, der sich mit der Geschichte Russlands und der Ukraine beschäftigte. Antonovyč (1834–1908) war der erste im engeren Sinn wissenschaftliche Historiker der Ukraine, dem zahlreiche Quelleneditionen zu verdanken sind und der in seinem Werk die Kontinuität der ukrainischen Geschichte von der Kiever Rus bis ins 19. Jahrhundert unterstreicht, eine These, die von seinem Schüler Mychajlo Hruševs’kyj aufgenommen und weiterentwickelt wurde. Antonovyč repräsentierte die liberale, in der „Alten Kiever Hromada“ organisierte Richtung der ukrainischen Nationalbewegung. Mit ihm arbeitete der gelernte Althistoriker Drahomanov (1841–1895) eng zusammen, bevor er unter dem Einfluss sozialistischer Ideen eine radikalere Richtung einschlug und 1876 prompt Russland verlassen musste. Er lebte fortan als politischer Denker und Publizist in Genf und Sofia und übte großen Einfluss auf die ukrainische Nationalbewegung in Galizien aus.

Kostomarov ist im vorliegenden Band mit seinem klassischen Essay Zwei russische Nationalitäten vertreten, in dem er die Eigenständigkeit der Ukrainer und ihrer Geschichte herausarbeitet und ihren durch Freiheit, Demokratie, Individualismus und Föderalismus geprägten „Volkscharakter“ vom Kollektivismus, von der Autokratie und vom Zentralismus der Russen sowie auch von der polnischen Aristokratie abgrenzt. Ein weiterer berühmter Text ist Antonovyčs Beichte, in der er mit seiner Vergangenheit als Vertreter der polnischen bzw. polonisierten Szlachta abrechnet und begründet, weshalb er von einer polnischen zu einer ukrainischen Identifizierung wechselte. Diese beiden russischsprachigen Schriften sind in der Zeitschrift Osnova erschienen, die in den Jahren 1861/62 in St. Petersburg erschien. Dazu kommt ein kurzer Text Antonovyčs, in dem er ähnlich wie vor ihm Kostomarov die Eigenständigkeit der ukrainischen ethnischen Gemeinschaft betont.

Den größten Umfang nehmen Schriften Drahomanovs ein. In seiner 1875 publizierten Studie Juden und Polen in der Südwest-Region setzt er sich für einen Ausgleich der Ukrainer mit den Polen und Juden in der gemeinsamen Gegnerschaft zur Zarenautokratie ein. Er stellt sich allerdings polnischen Ansprüchen auf das historische Polen, zu dem weite Teile der Ukraine gehörten, entgegen. Für die Juden fordert er Gleichberechtigung, doch finden sich in dem Aufsatz auch judophobe Stereotypen. Die letzten 100 Seiten des Bandes sind einigen ausgewählten Briefen aus der umfangreichen Korrespondenz Drahomanovs mit der Alten Kiever Hromada aus den Jahren 1886 und 1887 vorbehalten. Es geht darin vor allem um die Ausrichtung der ukrainischen Nationalbewegung im Zarenreich und in Galizien. Drahomanov kritisiert die weitgehend apolitischen Liberalen in Kiev ebenso wie die klerikalen Ukrainer in Galizien und tritt für eine Öffnung gegenüber westeuropäischen liberalen und sozialistischen Strömungen ein.

Kostomarov, Antonovyč und Drahomanov waren nicht nur in der ukrainischen Nationalbewegung aktiv, sondern auch Vertreter eines Föderalismus, in dem die Ukraine im Rahmen eines locker organisierten Russlands breite Autonomie genießen sollte. Besonders Drahomanov gilt als einer der bedeutenden frühen Theoretiker des Föderalismus. Darin und in seiner Kritik am extremen Nationalismus und im Appell an eine Verbindung von liberalen, nationalen und sozialistischen Gedanken in einer transnationalen Ausrichtung hat sein Werk seine Aktualität bis heute behalten.

Der Herausgeber des Werks hat mustergültige Arbeit geleistet. Sein 34-seitiger einführender Essay ist eine der besten knappen Darstellungen der ukrainischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts. Die einzelnen Autoren und ihre Werke werden in sachkundigen Einleitungen vorgestellt, die Texte sind mit erläuternden Anmerkungen versehen, und auch ein Register fehlt nicht. Man würde sich wünschen, dass es mehr solcher Quellenwerke nicht nur zur ukrainischen Geschichte gäbe.

Andreas Kappeler, Wien

Zitierweise: Andreas Kappeler über: Fashioning Modern Ukraine. Selected Writings of Mykola Kostomarov, Volodymyr Antonovych, and Mykhailo Drahomanov. Ed. by Serhiy Bilenky. Toronto, ON: CIUS, 2013. XLVI, 500 S., Abb. ISBN: 978-1-894865-32-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kappeler_Bilenky_Fahioning_Modern_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Andreas Kappeler. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.