Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Peter Kaiser
Igor’ V. Narskij: Sluchi v Rossii XIX–XX vekov. Neoficial’naja kommunikacija i „krutye povoroty“ rossijskoj istorii. Sbornik statej [Gerüchte im Russland des 19. und 20. Jh. Inoffizielle Kommunikation und „radikale Umbrüche“ der russischen Geschichte]. Pod. red. Igorja V. Narskogo i dr. Čeljabinsk: Kamennyj pojas, 2011. 362 S. ISBN: 588771087X.
Inhaltsverzeichnis:
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In seinem Standardwerk über die Gerüchte, dieses „älteste Massenmedium der Welt“, erklärte der französische Soziologe Jean-Noël Kapferer die Faszination und suggestive Wirkung, die von dem Gerücht ausgehen, unter anderem mit dessen Unentbehrlichkeit, um in bestimmten Situationen eine Erklärung für etwas zu finden, das rätselhaft, enigmatisch und undurchschaubar ist. „Überall, wo die Öffentlichkeit verstehen will, jedoch keine offiziellen Antworten erhält, gibt es also Gerüchte. Sie sind der Schwarzmarkt der Information.“ Die Quelle vieler Gerüchte, so Kapferer weiter, sei ein Ereignis oder Sachverhalt, die Unruhe erregen und eine Gruppe von Menschen zu einem Informationsaustausch darüber animieren, denn die Gruppe müsse versuchen, das Puzzle zusammenzusetzen: „Das Gerücht bedeutet, dass die Aufmerksamkeit der Gruppe mobilisiert wird“. Je größer die Ausnahmesituation und je existenzieller die Ängste der jeweiligen Gruppe sind, desto stärker greift diese auf das Mittel des Gerüchts zurück, das dabei helfen soll, die Ängste zu benennen und sie schließlich zu überwinden.
Dass Russland bzw. die Sowjetunion in den letzten zweihundert Jahren einen äußerst fruchtbaren Boden für die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten aller Art bot, ist angesichts der Kataklysmen, die das Land in dieser Zeitspanne erschütterten, mehr als verständlich. Umso erstaunlicher ist die Vernachlässigung dieses Forschungsfeldes durch die Geschichtswissenschaft. Viele Historiker (westliche wie russische) standen bzw. stehen immer noch der Untersuchung des Gerüchts als eines Phänomens der zwischenmenschlichen Kommunikation skeptisch bis strikt ablehnend gegenüber. Das Gerücht wird immer noch viel zu oft mit übler Nachrede, dem Tratsch oder sinnentleertem Gerede gleichgesetzt und damit a priori zu etwas erklärt, das man ‚desavouieren‘ und ‚widerlegen‘ sollte statt es zu erforschen. Damit unterschätzt die akademische Geschichtswissenschaft das Gerücht als einen integralen Bestandteil des Alltags, eine Quelle von ‚alternativem Wissen‘, die dem Zugriff der Obrigkeit weitgehend entzogen ist, als eine kulturelle Praxis, die in der Lage ist, die gesellschaftliche Stimmungslage zu manipulieren, für Unruhe zu sorgen und den Machthabern großen Schaden zuzufügen. Wie Marc Bloch schrieb: „Nur die großen kollektiven Stimmungen haben überhaupt die Kraft, aus falschen Wahrnehmungen ein Gerücht zu machen“.
Diese Vernachlässigung des Gerüchts als Forschungsobjekt (in Russland wohlgemerkt) wurde kürzlich erfreulicherweise durchbrochen. Im Oktober 2009 fand im DHI Moskau eine internationale wissenschaftliche Konferenz statt, die von der Staatlichen Universität des Süd-Urals in Čeljabinsk, dem DHI Moskau und der Russischen Gesellschaft für Geistesgeschichte organisiert wurde und deren Ergebnisse jetzt in Form des hier zu besprechenden Bandes vorliegen. Wie die Herausgeber in dem Vorwort vermerken, besteht die zentrale argumentative Achse, die der Konferenz und der Veröffentlichung ihrer Ergebnisse zugrunde lag, in der Annahme, dass das Gerücht nicht nur ein kommunikatives Medium ist, sonder darüber hinaus ein wirkmächtiger Faktor, der den historischen Prozess beeinflusst. Die „angewandte Funktion des Gerüchts“ bestehe, so die Herausgeber, in erster Linie nicht nur darin, die vorhandenen Wissenslücken zu fühlen, sondern in seiner Rolle als Mittel alternativer Interpretationen, der Kritik, der Missbilligung sowie der Schaffung informeller Identitäten und der Erklärung des Unverständlichen.
Wie die Soziologen seit längerem wissen, steigt die Zirkulation von Gerüchten in Krisenzeiten sprunghaft an: Das informationelle Vakuum und die Zerstörung von gewöhnlichen sozialen Verbindungen schaffen einen günstigen Nährboden für die Entstehung und Verbreitung eines Gerüchts, sie befördern es und ermöglichen somit den Historikern, die Gerüchte intensiv zu erforschen. Aus diesem Grund stehen im Mittelpunkt der gesammelten Beiträge zur „inoffiziellen Kommunikation“ in Russland im 19. und 20. Jahrhundert die Krisen in all ihren Ausprägungen.
Der Band besteht aus fünf Teilen, die sich jeweils aus mehreren Beiträgen zusammensetzen. Nach den theoretisch-methodischen Überlegungen zur Natur des Gerüchts und dessen Funktion als „kommunikatives Phänomen“, werden in den weiteren Teilen des Bandes anhand von konkreten Beispielen die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten empirisch untersucht. Den Herausgebern ist es zweifellos gelungen, eine breite Palette an Einzelstudien zu präsentieren, die vom östlichen Russland des 18. Jahrhunderts (der Beitrag von Igor’ Poberežnikov) über die Zeit des russischen Bürgerkrieges und des Stalinismus (die Beiträge von Igor’ Narskij, Julia Chmelevskaja und Tadzio Schilling) bis zum Russland der ersten Jahre des 21. Jahrhunderts (der Beitrag von N. Radina) reichen. Besonders hervorzuheben sind die Beiträge, die sich mit weniger erforschten Aspekten der russischen Geschichte befassen, wie z.B. Oksana Nagornajas Artikel über die Gerüchte, die in der russischen Gesellschaft während des Ersten Weltkrieges über die Bedingungen in den deutschen Kriegsgefangenenlagern und das Schicksal der russischen Soldaten dort verbreitet wurden, oder Ulrike Huhns Beitrag über die Gerüchte und deren Beziehung zum kirchlichen Untergrund und zur Volksfrömmigkeit in der Sowjetunion nach 1943.
Auch wenn man einigen Artikeln deren Charakter als Konferenzvortrag deutlich ansieht (wie z.B. demjenigen von U. Ul’janov über die Gerüchte als Instrument der politischen Polizei von 1880 bis 1905), schmälert dies weder den Wert des Bandes insgesamt noch der jeweiligen Beiträge, die in ihrer erfreulicherweise starken Rezeption der maßgeblichen westlichen Forschung das Niveau des bloßen unreflektierten Verweises verlassen. Allerdings leidet der Band auch an etlichen Mängeln, die bei allem berechtigten Lob für den Mut der Herausgeber, die für die russische Geschichtswissenschaft neue Wege gehen, nicht unerwähnt bleiben dürfen. Als erstes ist hier die zeitliche Begrenzung auf das 19. und 20. Jahrhundert zu nennen, deren Notwendigkeit nicht ohne weiteres ersichtlich ist. Damit fehlt nicht nur eine Darstellung des politisch wohl bedeutsamsten Gerüchts der russischen Geschichte – die „Zeit der Wirren“ wäre ohne die Erzählung von der Mitschuld Boris Godunovs am Tod des Zarewitsch Dmitrij und die damit verbundenen Behauptungen, der Zarewitsch sei „ auf wundersame Weise seinen Häschern“ entkommen, wohl nicht möglich gewesen –, sondern auch die Darstellung von Kontinuitäten, Brüchen und Besonderheiten, die das Gerücht im Leben des russischen Volkes hatte. Ein komparativer Überblick über die „Geschichte des Gerüchts“ in Russland, der gewiss interessante Parallelen zutage fördern würde, fehlt ebenfalls.
Der zweite Kritikpunkt steht in gewisser Beziehung zum ersten: Auch innerhalb des ausgewählten Zeitrahmens ist eine gewisse quantitative Unausgeglichenheit zu beobachten. Nur wenige Beiträge widmen sich der Untersuchung des Gerüchts in der sowjetischen Geschichte nach 1945 und kein einziger beleuchtet die Rolle, die die informelle Kommunikation in der Zeit der Perestroika und beim Zerfall der Sowjetunion spielte. Das gleiche gilt für die nachsowjetische Epoche, die erstaunlich blass bleibt.
Nichtsdestoweniger überwiegt das Positive. Es bleibt zu hoffen, dass weitere Forschungen die angesprochenen Lücken schließen und den bereits vorhandenen Wissensstand vertiefen helfen.
Zitierweise: Peter Kaiser über: Igor’ V. Narskij: Sluchi v Rossii XIX–XX vekov. Neoficial’naja kommunikacija i „krutye povoroty“ rossijskoj istorii. Sbornik statej [Gerüchte im Russland des 19. und 20. Jh. Inoffizielle Kommunikation und „radikale Umbrüche“ der russischen Geschichte]. Pod. red. Igorja V. Narskogo i dr. Čeljabinsk: Kamennyj pojas, 2011. 362 S. ISBN: 588771087X, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaiser_Narskij_Sluchi_v_Rossii.html (Datum des Seitenbesuchs)
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