Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexis Hofmeister

 

Henrietta Mondry: Exemplary Bodies: Constructing the Jew in Russian Culture since the 1880s. Boston, MA: Academic Studies Press, 2009. 301 S., 13 Abb. = Borderlines: Russian and East European-Jewish Studies. ISBN: 978-1-934843-39-0.

Henrietta Mondry beruft sich zu Beginn ihrer Studie zur Konstruktion des jüdischen Körpers in der russischen Kultur auf die kulturwissenschaftlich informierte Einsicht, dass der physische Körper des Menschen ohne die ihm zugeschriebene kulturelle Bedeutung gar nicht denkbar sei. Sie kündigt an, Beispiele für die Darstellung jüdischer Körperlichkeit in der russischen Kultur der Moderne zu untersuchen, die als typisch für Zeit und Kontext gelten dürfen. Alle die von ihr untersuchten beispielhaften Fälle würden Aspekte russischer Körperkonstruktion enthalten und zusammengenommen die historische Kontinuität jüdischer Sichtbarkeit bzw. Sichtbarmachung von den 1880er bis in die 2000er Jahre demonstrieren. Für die Autorin ist die Beobachtung, dass im jüdischen Körper, physiognomisch wie psychologisch, die Verkörperung des Anderen gesehen wurde, der Ausgangspunkt einer tour de force durch zweihundert Jahre russische Kulturgeschichte. Jüdische Autorinnen und Autoren werden dabei ausdrücklich eingeschlossen; gerade ihre Strategien des Umgangs mit dem erzählten jüdischen Körper interessieren Mondry. Die diskutierten Textbeispiele stammen aus der Feder von Klassikern der russischen Literatur wie Anton Tschechov (1860–1904) und Ilja Ehrenburg (1891–1967), zeitgenössischen russischsprachigen Autorinnen und Schriftstellern außerhalb der Russischen Föderation wie Dina Rubina (*1953) und Alexander Goldstein (1957–2000) oder russischen Antisemiten wie Alexander Prochanov (*1938) und Grigorij Klimov (1918–2007). Am Anfang dieser eindrucksvoll langen Kette von Beispielen meist literarischer Texte steht der Fall des Autors Afanasij Fet (1820–1890), dessen Abstammung bis heute umstritten geblieben ist. So ist Fet etwa in der von Maxim D. Shrayer 2007 herausgegebenen englischsprachigen Anthologie russisch-jüdischer Literatur vertreten. Sofja Tolstaja (1844–1919) bekannte, Fet wegen seiner jüdischen Züge bedauert zu haben. Doch die Konstruktion betraf nicht nur Fets physische Natur, so Mondry. Vielmehr habe Fet schließlich selbst begonnen zu glauben, seine psychische Instabilität sei ein Zeichen für ein jüdisches Stigma, das er seiner Mutter verdanke. Hier zeigt sich beispielhaft Mondrys Vorgehen. Sie ist von dem Befund irritiert, dass sich noch unter sowjetischen Intellektuellen, etwa bei dem Literaturwissenschaftler Boris Buchštab (1904–1985), Spuren vorrevolutionärer physiognomischer Stereotype finden. Buchštab ging in Bezug auf Fet von einem erkennbar jüdischen Äußeren aus. Dieser Befund legt es für Mondry nahe, dass Körper- und insbesondere Männlichkeitsbilder in der russischen Kultur, und vor allem der Literatur, in einem Zeitraum von etwa einhundert Jahren nahezu unverändert tradiert wurden. Ihre Studie, die aus mehr oder weniger aufeinander bezogenen Essays besteht, will diese Annahme belegen. Körperbilder, wie sie die außerhalb der Literatur etwa in der Biologie oder Malerei kursierten, werden teilweise herangezogen. Systematisch ist ihnen allerdings kein eigenes Kapitel gewidmet. Das ist insbesondere in Bezug auf die medizinischen Wissenschaften im Zarenreich sowie die sowjetische Biologie bedauerlich. Der historische Hintergrund jüdischen Lebens im Zarenreich sowie der Sowjetunion, aber auch die Geschichte des europäischen Antisemitismus oder die Geschichte der Medikalisierung des menschlichen Körpers bleiben so unterbelichtet. Für Mondry scheint als Literaturwissenschaftlerin der Unterschied zwischen vorgestelltem, erfundenem und real erfahrenem Körper bzw. zwischen dem Wahrheitsanspruch literarischer und nichtliterarischer Texte irrelevant zu sein. Von Daniel Boyarin und Sander Gilman übernimmt die Autorin die sich auf Sigmund Freud berufende These von der Pathologisierung des jüdischen Körpers als diskursive Formation der Moderne. Auch wenn die Beschneidung als äußerliches Merkmal erkennbares Zugehörigkeitsmerkmal der jüdischen Bevölkerung im Ansiedlungsrayon des Zarenreichs erwähnt wird, unterbleiben systematische Überlegungen zur Körperpolitik (Bodypolitics) der jüdischen Eliten im 19. Jahrhundert. Stattdessen werden tatsächliche und eingebildete Merkmale jüdischer Körper anhand einzelner literarischer Figuren etwa in den Romanen Ilja Ehrenburgs thematisiert. Die in den literarischen Texten und Filmskripten der 1930er bis 1950er Jahre zum Ausdruck kommenden Bilder jüdischer Körper seien nicht eindeutig negativ oder positiv konnotiert gewesen. Ob sich aber das Überdauern antisemitischer Klischees in Bezug auf den Körper eher der stalinistischen Kulturpolitik oder dem antisowjetischen Widerstand verdankte, vermag die Autorin nicht zu sagen. Gerade die Antwort auf die Frage nach dem Unterschied zwischen der sowjetischen und der Exilliteratur hätte dazu beitragen können, sowjetische Körperbilder zu historisieren. Ob die sowjetische Erfahrung des antisemitischen Besatzungsregimes im Zweiten Weltkrieg eine Rolle für den Wandel der Körperbilder spielte, erfahren Leserinnen und Leser nicht. Dafür wird die Rolle der antizionistischen Kampagne im Zuge des israelisch-arabischen Sechstagekrieges (1967) hervorgehoben. Hierbei werden auch antisemitische sowjetische Karikaturen berücksichtigt. Das Bild des pathologisch sadistischen und sexualisierten Juden tritt dabei klar zu Tage. Es wurde in einschlägigen antisemitischen Publikationen seit der relativen Veröffentlichungsfreiheit der Perestroikajahre verbreitet. Die Anknüpfungspunkte zum homophoben und nationalistischen Männerbild der 1990er und 2000er Jahre liegen auf der Hand. Diesem Befund steht das durchaus positive Israelbild etwa in der postsowjetischen Ukraine entgegen. Doch Mondry geht es nicht um eine Historisierung der in der russischen Literatur kursierenden Bilder jüdischer Körperlichkeit. Weil sie von der unwandelbaren Natur der dichotomischen Konstruktion des jüdischen Körpers als vom russischen Körper ethnisch verschieden ausgeht, müssen die historischen Unterschiede zwischen dem Zarenreich, der Sowjetunion und der postsowjetischen russischen Welt minimiert werden. Dies drückt sich im Begriff des Recycling aus, den Mondry in ihrem Schlusskapitel benutzt, um die Wiederkehr des ewig Gleichen im neuen Gewand zu erklären. Leider lässt ihre Studie wichtige historische Fragen unbeantwortet.

Alexis Hofmeister, Basel

Zitierweise: Alexis Hofmeister über: Henrietta Mondry: Exemplary Bodies: Constructing the Jew in Russian Culture since the 1880s. Boston, MA: Academic Studies Press, 2009. 301 S., 13 Abb. = Borderlines: Russian and East European-Jewish Studies. ISBN: 978-1-934843-39-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hofmeister_Mondry_Exemplary_Bodies.html (Datum des Seitenbesuchs)

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