Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Edgar Hösch

 

Rusistika Ruslana Skrynnikova. Sbornik statej pamjati professora R. G. Skrynnikova, v čest ego 80-letija. Pod red. Djula Svaka i I. O. Tjumenceva. Budapešt, Volgograd: Russica Pannonicana, 2011. 285 S. = Knigi po rusistike, 30. ISBN: 978-963-7730-65-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Die Gedenkschrift ehrt einen renommierten Altrussland-Historiker, der in den letzten Jahrzehnten die Forschungen zur Zeit Ivans Groznyjs und zur Smuta maßgeblich geprägt hat. Ruslan Skrynnikov (1931–2009) hat mit seiner akribischen Archivarbeit und Quellenkritik wesentlich dazu beigetragen, überkommene Mythologisierungen der Vergangenheit in der russischen Geschichtswissenschaft zu hinterfragen und zu revidieren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion hat er durch die Intensivierung der Westkontakte ideologische Barrieren überwinden geholfen. Beide verdienstvolle Bemühungen haben ihm in seiner wissenschaftlichen Karriere mancherlei bürokratische Behinderungen und Anfeindungen eingebracht. Über die persönlichen Animositäten und die ideologischen Gegensätze, denen er jahrelang am Leningrader bzw. Petersburger Institut ausgesetzt war, berichtet der Herausgeber Gyula Szvak als unmittelbar involvierter Zeitzeuge in seinem einleitenden Beitrag (R. G. Skrynnikov: istorik i mirmir istorika /opyt rekonstrukcii, S. 9–21). Sein ungarischer Kollege Sándor Szili, selbst ein Betroffener der internen Rivalitäten und Grabenkämpfe, erläutert die Hintergründe der Frontstellungen an den kontroversen Diskussionen um die historische Einordnung des Feldzuges Ermaks und der Eroberung Sibiriens (R. G. Skrynnikov i konceptualnaja problema prisoedinenija Sibirskogo chanstva k Rossii. Opyt diskussii v pozdnej sovetskoj istoričeskoj nauke, S. 22–41).

Die nachfolgenden 18 Beiträge, die Schüler und Kollegen Skrynnikovs zum Sammelband beigesteuert haben, bewegen sich im gleichen zeitlichen Rahmen, den Skrynnikov mit seinen eigenen Forschungen abgesteckt hat (vgl. das ausführliche Verzeichnis seiner Schriften S. 42–59). Inhaltlich handelt es sich vornehmlich um die Auswertung neuer Quellenfunde und um quellenkritische Studien zu Detailfragen. Aleksei I. Alekseev identifiziert ein dem Novgoroder Erzbischof Gennnadij zugeschriebenes Fragment eines Sendeschreibens durch Textvergleiche als Antwort auf ein Schreiben des Erzbischofs und vermutet als möglichen Verfasser Dmitrij Trachaniot (Ob avtorstve odnogo otryvka, pripisyvaemogo Novgorodskomu archiepiskopu Gennadiju Gonzovu, S. 60–67). Jean Martin erkennt am Beispiel der Novgoroder Familie Klementev für das 16. Jahrhundert noch kein volles Eigentumsrecht der pomeščiki an ihrem Dienstgut, das eine ungehinderte Weitergabe des Besitzes an den Sohn garantiert hätte (From Fathers to Sons? Property and Inheritance Rights of Pomeshchiki in 16th-century Muscovy, S. 68–75). Ann M. Kleimola sieht in der ungewöhnlichen Zusatzformel zum Loyalitätseid des Fürsten Vladimir Andreevič Starickij im Jahre 1554, nicht auf seine Mutter zu hören, den Versuch, mögliche Intrigen der Evrosinija Starickaja und etwaige für den Fortbestand der herrschenden Dynastie gefährliche Heiratspläne für ihren Sohn abzuwehren (I will not listen to my mother: Vladimir Staritskiis Oath of 1554, S. 76–88). Interessante Belege zu despektierlichen Tiervergleichen in den Schriften Ivans des Schrecklichen und in der ostslavisch-orthodoxen Überlieferung sowie zur speziellen persönlichen Erfahrung des Zaren im Umgang mit Hunden trägt Charles J. Halperin zusammen (You Dog!Ivan IVs Canine Invective, S. 89–108). Daniel Kaiser versucht den Djaken Miasoed Vislyj, ein Opfer des Opričnina-Terrors, vom Vorwurf der Korruption und der eigennütziger Grundstückspekulationen zu entlasten. Seine testamentarischen Verfügungen zeigten ihn als einen gläubigen Christen, der vor dem gewaltsamen Tod seinen Besitz vornehmlich den Klöstern und Kirchen seiner engeren Heimatregion in Beloozero vermacht (Miasoed Konstantin Semenovich Vislyi: Oprichnina Victim and Beloozero zemliak, S. 109–117). Nach Vasili I. Uljanovskij, Verfasser einer Monographie über den Kiever Metropoliten Spiridon-Savva, hatte dessenIzloženie“ keinen direkten Bezug zu den aktuellen innerkirchlichen Kontroversen mit den sog. Uneigennützigen um den kirchlichen Grundbesitz, sondern ist in den Kontext der orthodoxen Lehrtraditionen über Armut und Reichtum einzuordnen (Problema bednosti i bogatstva ilinestjažatelskie idei“ v Izloženii mitropolita Spiridona, S. 118–140). Für Maureen Perry verweist der doppelköpfige Adler als Herrschersymbol im Moskauer Staatswappen nicht nur auf byzantinische Traditionen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden sich in Russland und in der Ukraine Erklärungsversuche aus biblischen Bezügen mit unterschiedlichen positiven und (unter den Altgläubigen) negativen Konnotationen (Biblejskie orly i moskovskij gerb: kontrastnye obrazy carja vo vtoroj polovine XVII v., S. 231–239). Den ungewöhnlichen Zulauf, den der Falsche Demetrius für seine Thronansprüche gewinnen konnte, versucht Chester S. I. Dunning als ein Phänomen der religiösen politischen Kultur im orthodoxen Russland und der sakralen Überhöhung des Herrschers zu verstehen (Tsar Dmitrii and Pretenderism, S. 141–148). Tomaz Bohun befasst sich mit den Hintergründen der Thronkandidatur des polnischen Königssohns Władyslaw (W poszukiwaniu nowego cara i moskiewska propozycja kandydatury królewicza Władysława, S. 187–202).

Die institutionellen Veränderungen und personellen Verflechtungen im Umfeld des Zarenhofes werden in mehreren Beiträgen thematisiert. Nach Natalija V. Rybalko lässt sich trotz der Erwähnung von vier pečatniki im Zeitraum von 1598 bis 1613 die Institutionalisierung des Amtes des Siegelbewahrers in einem eigenen Prikaz nicht belegen (Pečatniki Smutnogo vremeni, S. 149–158). Vitalij G. Ananev fasst die Ergebnisse seiner Dissertation über die sieben Bojarenvertreter zusammen, die während des Interregnums (1610–1612) nach dem Sturz Vasilij Šujskijs die Geschicke des Landes bestimmten. Er verbindet den Versuch einerKollektivbiographieder insgesamt zehn Personen aus neun Familien mit strukturgeschichtlichen Überlegungen zur Moskauer Aristokratie (Sostav Semibojarščiny: popytkasemejnogo portreta v interere, S. 176–186). Die engen familiären Verbindungen innerhalb der herrschenden Eliten am Moskauer Hof demonstriert Andrej P. Pavlov am Beispiel der Mitglieder des Strešnev-Clans. Die Abkömmlingen des Provinzadels waren über die zweite Ehe des Zaren Michail Fedorovič von 1626 mit Evdokija Lukjanovna in höchste Ämter aufgestiegen (Carskaja rodnja Strešnevy i ich utverždenie pri dvore v 20-ch godach XV v., S. 203–219). Pavel V. Epifanovskij korrigiert die Zahlenangaben zu den Verteidigern der Festung Smolensk, die während der 20-monatigen Belagerung gegen die Truppen des Polenkönigs Sigismund 1609–1611 aufgeboten wurden, und zu ihrer Ausrüstung. Im Gegensatz zur Einschätzung der sowjetischen Geschichtswissenschaft, die von einem vorwiegend aus Arbeitern und Bauern rekrutierten Aufgebot (ca. 80,3 %) ausgeht, stuft er den adeligen Anteil sehr viel höher ein (43,26 %). Außerdem verweist er auf den nicht unerheblichen Beitrag kirchlicher Einrichtungen zu den Verteidigungsanstrengungen (9 %), der während der Sowjetperiode ganz ausgeblendet wurde (Sostav Smolenskogo garnizona po dannym deloproizvodstvennych materialov Smolenskoj prikaznoj palaty 1609 g., S. 164–176). Zu vergleichbaren Korrekturen kommt auch Denis A. Ljapin bei der sozialen Zuordnung der Teilnehmer an den Unruhen in den südrussischen Städten in der Mitte des 17. Jahrhunderts. (Socialnyj sostav učastnikov volnenij v gorodach Juga Rossii v seredine XVII v., S. 220–230). Er sieht keine Massenbewegungen der verarmten unteren Bevölkerungsschichten und verweist auf die unterschiedliche Herkunft der Teilnehmer, die aus den jeweiligen regionalen Besonderheiten zu erklären ist. Das treibende Element waren die Dienstleute und Vertreter des lokalen Adels, nicht die Bauern. Deren Protest äußerte sich eher in der Flucht an die Wolga und an den Don oder im Wechsel der Dienstherren, nicht im bewaffneten Aufstand.

Nach Pavel V. Sedov erlaubt eine bisher wenig beachtete Quellengruppe, der interne Schriftverkehr zwischen den Klöstern und ihren Oberen in Moskau, einen unmittelbaren Einblick in die Rechtspraxis (Pravda i Zakon [sudebnaja praktika vtoroj poloviny XVII v. glazami ee učastnikov], S. 240–253). Der beispielhaft herangezogene Schriftwechsel des Valdaj-Iverskij-Klosters und des Uspenskij-Tichvinskij-Klosters mit Vertretern in Moskau und Novgorod in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lässt erkennen, dass ungeachtet der erlassenen Gesetze und obrigkeitlicher Verordnungen die Rechtsfindung weiterhin nach den traditionellen Gepflogenheiten durch Aushandlung unter den Betroffenen ohne förmliche Protokollierung geschah.

Die beiden abschließenden Beiträge sind Quellenveröffentlichungen vorbehalten. Stani­slav V. Mirskij führt erneut den Brief des Jan Wislouch, eines adeligen polnischen Teilnehmers am Feldzug des Falschen Demetrius, in die Forschungsdiskussion ein, den jener am 14./24. Juli 1605 aus Moskau an seinen Bruder Jakub gerichtet hat und dem sich Präzisierungen über den Kriegsverlauf entnehmen lassen (Nedoocenennyj istočnik po istorii Smuty v Rossii načala XVII stoletija, S. 254–265, polnisches Original mit russischer Übersetzung S. 259–262). Aus dem Nachlass des Jan Piotr Sapieha veröffentlichen Natalija V. Rybalko und Igor O. Tjumencev neun Schreiben des Zaren Uraz-Muchammed von Kasimov, der zum Falschen Demetrius übergelaufen war (Služilye tatary u Tušinskogo vora po materialym russkogo archiva Ja. Sapegi 1608–1611 gg., S. 266–283).

Der Gedenkband enthält ein breites Angebot an Einzelstudien zur Geschichte des 16. und 17. Jahrhunderts im Moskauer Russland. Sie zeigen, dass die von Ruslan Skrynnikov angestoßenen Revisionsbemühungen auf einen fruchtbaren Boden gefallen sind.

Edgar Hösch, Würzburg

Zitierweise: Edgar Hösch über: Rusistika Ruslana Skrynnikova. Sbornik statej pamjati professora R. G. Skrynnikova, v čest’ ego 80-letija. Pod red. Djula Svaka i I. O. Tjumenceva. Budapešt, Volgograd: Russica Pannonicana, 2011. 285 S. = Knigi po rusistike, 30. ISBN: 978-963-7730-65-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoesch_Szvak_Rusistika_Ruslana_Skrynnikova.html (Datum des Seitenbesuchs)

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