Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Edgar Hösch
Rude & Barbarous Kingdom Revisited. Essays in Russian History and Culture in Honor of Robert O. Crummey. Edited by Chester S. L. Dunning, Russell E. Martin, Daniel Rowland. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2008, 512 S. ISBN: 978-0-89357-359-1.
Anlässlich des 40. Jahrestages der Veröffentlichung seines viel beachteten Erstlingswerkes zur ausländischen Russlandberichterstattung widmeten namhafte Russlandforscher vornehmlich aus den USA Robert O. Crummey eine Festschrift unter dem ursprünglichen Titel. Dass der Jubilar zwei Jahre zuvor sein 70. Lebensjahr vollendet hat, bleibt in den einleitenden Ausführungen der Herausgeber zu seiner akademischen Karriere allerdings unerwähnt. Die insgesamt 33 Beiträge werden nach vier Themen („Rulers and Ruling Elites“, „Monks and Old Believers“, „Rude & Barbarous Kingdom“, „Culture, Law, Women, and War“) gruppiert. Die Kapitelüberschriften nehmen unmittelbaren Bezug auf Forschungsbereiche, zu denen auch Robert O. Crummey zahlreiche Studien veröffentlicht hat (vgl. dazu die Bibliographie S. 13–20). Ein stimmiges Gesamtkonzept darf nicht erwartet werden. Die Autoren ergänzen bzw. korrigieren bisherige Forschungsmeinungen zu Einzelfragen, führen neue Quellen in die Fachdiskussion ein oder legen erste Untersuchungsergebnisse zu bislang weniger beachteten Fragestellungen vor. Der Rezensent muss sich mit wenigen Hinweisen begnügen.
Donald Ostrowski kommt nach einer kritischen Überprüfung des Forschungsstandes gegen Ju. K. Begunov zu dem Ergebnis, dass die erste Redaktion der Vita Alexander Nevskijs nicht schon im späten 13. Jahrhundert, sondern erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sein kann („Redating the Life of St. Alexander Nevskii“, S. 23–40). Nach Charles J. Halperin lässt sich der Charakter Ivans des Schrecklichen nicht aus traumatischen Kindheitserfahrungen am Moskauer Hof erklären („The Minority of Ivan IV“, S. 41–52). Edward Keenan sieht als ursprüngliche Intention Ivans IV., 1564 die Maßnahmen für die letztlich gescheiterte opričnina-Episode einzuleiten, den Wunsch des gesundheitlich angeschlagenen Zaren an, sich ohne Herrscherpflichten ins Privatleben zurückzuziehen („The Privy Domain of Ivan Vasil’evich“, S. 73–88). David Goldfrank demonstriert an der Textgeschichte des Prosvetitel’, dass Nil Sorskij sehr viel mehr gemeinsame orthodoxe Grundüberzeugungen mit Iosif Volockij teilte als man bisher wahrhaben wollte („Nil Sorskii and Prosvetitel’“, S. 215–230).
Einzelne Autoren folgen dem Beispiel Crummeys und schöpfen neue Erkenntnisse aus dem Reservoir der Ausländerberichte. Nancy Shields Kollmann stellt einen Augenzeugenbericht des englischen Diplomaten George Carew über Polen-Litauen vor, der mit vergleichbarer Absicht nur wenige Jahre nach dem Russlandbuch von Giles Fletcher niedergeschrieben wurde („‘ The king … should be but Imaginary’: The Commonwealth of Poland-Lithuania in the Eyes of an English Diplomat, 1598“, S. 353–366). Chester S. L. Dunning verdanken wir die korrigierte Transliteration einer undatierten Beschreibung der Festungsanlagen des Soloveckij-Klosters (S. 323–325), deren Entstehung er mit guten Argumenten in das Jahr 1613 verschiebt und in unmittelbare Verbindung bringt mit den angedachten Interventionsplänen König James I. in Nordrussland während der Zeit der Wirren. Die Zuschreibung an Sir Fulke Conway bleibt allerdings hypothetisch („The Richest Place on Earth: An Early l7th-Century English Description and Military Assessment of Solovetskii Monastery”, S. 309–326). Für Daniel C. Waugh weist die Wahrnehmung sensationeller Vorgänge an der Türkenfront in russischen Kuranty des 17. Jahrhunderts auf die Anfänge einer kulturgeschichtlich bedeutsamen Kommunikationsrevolution hin, in die auch das Moskauer Russland einbezogen war und die ein neues Gefühl der grenzüberschreitenden Zeitgenossenschaft entstehen ließ („News Sensations from the Front: Reportage in Late Muscovy concerning the Ottoman Wars“, S. 491–506)
In mehreren Beiträgen werden aus unterschiedlichen Blickwinkeln neue informative Details zur Hofgesellschaft und den sie verbindenden sozialen Netzwerken, zu den öffentlichen Inszenierungen der Zarenmacht und zu den Führungseliten im Moskauer Russland zusammengetragen. Ol’ga E. Kosheleva und Boris N. Morozov fassen in einem gedrängten Überblick die wesentlichen Verpflichtungen und Privilegien der engsten Berater des Zaren mit Dumarang zusammen („Služebnaja dejatel’nost’ bojar v XVII v.“, S. 131–153). Die beiden Autoren gehören als russische Partner der Forschergruppe an, die seit 1961 gemeinsam mit den Amerikanern Russell E. Martin und Marshall Poe für die verdienstvolle biographische Datenbank zur Moskauer Elite des 17. Jahrhunderts (Muscovite Biographical Database/MBD) verantwortlich zeichnet. Daniel Rowland zeigt am Beispiel der beiden Thronsäle im Moskauer Kreml (Goldener Saal im Kremlpalast und Thronsaal im Facettenpalast) die Intention der Auftraggeber, sich mit einem einprägsames Bildprogramm an den Wänden und durch die aufwendigen zeremoniellen Abläufe der Empfänge den ausländischen Besuchern und den eigenen Untertanen als legitime Inhaber des Herrscheramtes zu präsentieren („Architecture, Image, and Ritual in the Throne Rooms of Muscovy, 1550–1650: A Preliminary Survey“, S. 53–71). Durch den inszenierten Geschenkeaustausch anlässlich von Hochzeiten innerhalb der Herrscherfamilie, der sich über mehrere Tage hinzog und in einem eigenen Inventar (Spisok pridannych) penibel protokolliert wurde (vgl. dazu die tabellarische Zusammenstellung für den Zeitraum von 1533–1671, S. 96–97), sollte nach Russell E. Martin der innere Zusammenhalt der Dynastie demonstrativ zur Schau gestellt werden („Gifts for Kith and Kin: Gift Exchanges and Social Integration in Muscovite Royal Weddings“, S. 89–108). Sachkundige Erläuterung zu den historischen, religiösen und ideologischen Begründungen des Moskauer Herrschergedankens und zur Traditionsgeschichte der Romidee in Russland findet man in dem Beitrag von Paul Bushkovitch. Peters des Großen neue Staatskonzeption knüpfte demnach nicht an antike römische Vorbilder an, deren Kenntnis in Russland kaum verbreitet war, sondern reproduzierte die russische Version zeitgenössischer barocker Vorgaben europäischer Fürstenhöfe („The Roman Empire in the Era of Peter the Great“, S. 155–172). Eine westeuropäische Entlehnung vermutet auch George G. Weickhardt in der Weiterentwicklung des russischen Katasterwesens im Uloženie von 1649. In den Kapiteln 16 und 17 war bei Landübertragungen eine Registrierungspflicht vorgesehen, um künftige Eigentumsstreitigkeiten zu vermeiden, und dabei – so die Vermutung des Verfassers – nach britischem Vorbild die „first-to-register rule“ zugunsten des ersten Antragsstellers verfügt worden („Registering Land Titles in Muscovy“, S. 441–457).
Einen Wechsel der Perspektive von den Oberschichten zur bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit verfolgt Carsten Goehrke in seinem Beitrag zu den Verbindungswegen im Moskauer Russland. Durchgangsstraßen boten den Bauern in nahegelegenen Siedlungen neue Verdienstmöglichkeiten, muteten ihnen aber auch durch Unterhaltsverpflichtungen und Spanndienste erhebliche Belastungen zu („Die Straße in der Alltagswahrnehmung russischer Bauern des 17. Jahrhunderts“, S. 341–351). Auf ein bisher wenig beachtetes Thema der Frauengeschichte in Russland richtet Carol B. Stevens das Augenmerk, auf das Schicksal der zahlreichen Helfer, des weiblichen Hilfspersonals und insbesondere der Ehefrauen, die regelmäßig im Tross der russischen Truppen anzutreffen sind („Women and the Russian Military, 1650–1730: A Preliminary Survey“, S. 473-490). Fragen zur Stellung der Frauen in der Moskauer Gesellschaft werden außerdem noch auf unterschiedlichen Ebenen thematisiert. Isolde Thyrêt korrigiert die negativen Urteile der Historiker über die Mutter des ersten Romanov-Zaren und weist ihr eine tragende Rolle in der schwierigen Übergangsphase der Smuta und bei der Wahl ihres Sohnes zu („Marfa Ivanovna and the Expansion of the Role of the Tsar’s Mother in the l7th Century“, S. 109–129). Daniel H. Kaiser erschließt aus den Testamenten von drei prominenten Frauen des 17. Jahrhunderts, dass sie als Witwen nicht frei über ihren Landbesitz verfügen konnten, sondern an die Vorgaben einer patriarchalen Gesellschaft gebunden waren, die eine patrilineare Erbfolge vorsahen („Property among Elite Women in l7th-Century Russia“, S. 427–440).
Genuin kirchengeschichtliche Fragen, die in den Forschungsarbeiten Crummeys zu den Altgläubigen einen zentralen Stellenwert einnahmen, werden in zahlreichen Beiträgen behandelt. Ludwig Steindorff entdeckt in der Handschrift 417 (683) des Eparchial’noe Sobranie im Staatlichen Historischen Museum in Moskau eine bisher unbekannte Quellengattung, die neue Informationen zur Kommemorationspraxis im Iosif-Volockij-Kloster enthält und für die er den Terminus „godovaja kormovaja kniga“ vorschlägt. Anhangsweise (S. 243–249) beigegeben ist die Liste der in der Quelle erwähnten Personen von Handschrift Nr. 417 (683) („Realization vs. Standard: Commemorative Meals in the Iosif Volotskii Monastery in 1566/6“, S. 231–249). Jennifer B. Spock findet in der Regel des Soloveckij-Klosters aus dem 17. Jahrhundert deutliche Anpassungen der überlieferten orthodoxen Traditionen mönchischen Lebens an lokale russische Gegebenheiten („Regarding the Good Order of the Monastery: The Tipik Solovetskago and the Integration of the Spiritual with the Temporal in the Early l7th Century”, S. 251–267). Georg B. Michels porträtiert Ivan Neronov als kompromisslosen Prediger der orthodoxen Lehre und scharfen Kritiker der russischen Kirchenführung und der unzulänglichen Pastoralarbeit („Ivan Neronov: A Priest Who Lost His Mind“, S. 269–285). Ann M. Kleimola stellt das nordrussische Antonij-Sijskij-Kloster als regionales Kulturzentrum und einzelne herausragende Äbte als Förderer lokaler Traditionen der Ikonenmalerei vor („Icon-Painting in the Russian North: Evidence from the Antonievo-Siiskii Monastery“, S. 327–339). Nach Roy R. Robson hat die Herausforderung, das Verhältnis zur kommunistischen Lehre und zum Sowjetstaat zu regeln, die Führung der altgläubigen Gemeinde in Riga während der Nachkriegsjahre tief gespalten („Old Believers and the Soviet State in Riga, 1945–55“, S. 287–299). Unter den russischen Dissidenten hat die Person Peters des Großen, dessen autokratischer Paternalismus ebenso abgelehnt wurde wie die bolschewistische Parteidiktatur, nach Jay Bergman vergleichbare Irritationen ausgelöst („Peter the Great in the Writings of Soviet Dissidents“, S. 189–212). Auf Randphänomene religiöser Erfahrungen (Todesvisionen, Begegnungen mit Heiligen oder verstorbenen Angehörigen), die in vormodernen russischen Texten überliefert sind, verweist Eve Levin („Near Death Experiences“, S. 411–425), und Valerie Kivelson versucht das Tabuthema der geheimnisvollen sog. Schwarzen Bücher innerhalb der orthodoxen russischen Gesellschaft zu konkretisieren („What was Chernoknizhestvo? Black Books, Foreign Writing, and Literacy in Muscovite Magic“, S. 459–472).
Dem Anlass der Festschrift entsprechend treten zeitgeschichtliche Themen ganz in den Hintergrund. Neben den knappen Ausführungen Alexis Pogorelskins zur Rolle Kamenevs im innersowjetischen Machtkampf Anfang der 20er Jahre („Kamenev in the Early NEP: The Twelfth Party Congress“, S. 173–187) verdient insbesondere der Beitrag von Richard Hellie Beachtung. Er fragt nach den Absichten, die Stalin zu einer dezidierten Befürwortung der israelischen Staatsgründung bewogen haben mögen. Hellie findet vornehmlich kurzfristige, auf die sowjetische Präsenz im Nahen Osten ausgerichtete Motive, während die langfristige Folgen, wie der Verlust an wissenschaftlicher und künstlerischer Kompetenz durch die absehbare jüdische Emigration weitgehend vernachlässigt wurden („The Soviet Role in the Creation of Israel Reconsidered“, S. 367–387).
Der Sammelband würdigt in überzeugender Weise das Lebenswerk eines verdienstvollen amerikanischen Russlandhistorikers, der bei seinen Forschungsarbeiten immer auch den Kontakt zur deutschen Osteuropaforschung gesucht hat. Interessenten insbesondere der frühneuzeitlichen Geschichte Russlands erwartet eine durchaus lohnende Lektüre mit informativen Beiträgen zu einem breiten Themenspektrum.
Edgar Hösch, Würzburg
Zitierweise: Edgar Hösch über: Rude & Barbarous Kingdom Revisited. Essays in Russian History and Culture in Honor of Robert O. Crummey. Edited by Chester S. L. Dunning, Russell E. Martin, Daniel Rowland. Bloomington, IN: Slavica Publishers, 2008, 512 S. ISBN: 978-0-89357-359-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoesch_Rude_and_Barbarous.html (Datum des Seitenbesuchs)
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