Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wladislaw Hedeler

 

Vladimir P. Buldakov: Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Izd. 2-e, dop. [Die roten Wirren. Wesen und Folgen der revolutionären Gewalt. 2., erw. Aufl.]. Moskva: Izdat. Rosspėn; Fond „Prezidentskij centr B. N. El’cina“ 2010. 967 S. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1263-8.

Vladimir Buldakov hat seine aufsehenerregende Studie aus dem Jahre 1997 für die Publikation in der vom Rosspėn-Verlag besorgten Reihe „Geschichte des Stalinismus“ überarbeitet und ergänzt. Dem neuen Buch liegen Recherchen in über 20 regionalen Archiven zu Grunde. Wie in der ersten Auflage – sie umfasste 376 Seiten und lag rechtzeitig zum Jahrestag der Revolution vor – geht es ausschließlich um die Gewalt. Buldakov und der 1997 verstorbene Pavel Vasil’evič Volobuev, dem das Buch gewidmet ist, gehörten zu den besten Kennern der russischen Revolution und standen damals dem Problemrat „Geschichte der Revolutionen in Russland“ an der Akademie der Wissenschaften vor.

Während Russland zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung erneut eine Revolution erlebt hatte und das Interesse am Gegenstand schon deshalb auf der Hand lag, tendiert dieses heute, konstatiert der Autor in der Vorbemerkung zur Neuauflage, gegen Null. Die Revolution wird wieder, wie zu Sowjetzeiten, als magischer, von einer kleinen, aber allmächtigen Minderheit in Szene gesetzter Akt interpretiert. Das Leitmotiv auch der in zweiter Auflage veröffentlichten Studie ist, nachzuweisen, dass die Bolschewiki 1917 Teil des Chaos waren, das immer wieder über Russland kam.

Diese These des Verfassers wurde seit Erscheinen der ersten Auflage jedoch eher von Soziologen und Politologen als von Historikern aufgegriffen. Ihr Nachdruck zu verleihen, ist Anliegen Buldakovs. Die Smuta – die Zeit der Wirren – ist die Quintessenz der von den Menschen gemachten Geschichte, die nicht in der Lage sind, sich adäquat im Raum der historischen Zeit zu erkennen. Das Buch ist der fortgesetzte Versuch, die Vorbestimmtheit der Krisenbewegung in Russland in Raum und Zeit zu untersuchen. (S. 5) Es ist in sieben Kapitel untergliedert: 1. Wege ins Chaos; 2. Massenpsychologie und Vektoren gesellschaftlicher Gewalt; 3. Von der Quasidemokratie zur Superdiktatur: Provokation und Zähmung der Wirren; 4. Bolschewismus im konterrevolutionären Interieur; 5. Das Abklingen der Energie des Chaos und sekundäre Wellen der Gewalt; 6. Die Entstehung revolutionärer Mythen und ihr aktuelles Schicksal; 7. Allgemeine Krisentheorie des Imperiums.

Buldakov nähert sich dem Phänomen vom Mentalen, vom Sozialen her, er verwirft das für die „marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung“ typische konkret-historische Herangehen; Analytik statt Mythologisierung lautet sein Motto. (S. 588) Eine Chronik der revolutionären Gewalt müsste seiner Meinung nach mit der Ermordung Rasputins im Dezember 1916 einsetzen (S. 112) und mit den Streiks der Arbeiter im Februar/März 1921 (S. 178) enden. Dem Sturz der Romanov-Dynastie in Petrograd gingen die Demonstrationen und Hungerunruhen der Frauen voraus. Was in den Tagen danach folgte, beschreibt Buldakov sehr zugespitzt und gegen die bestehenden Mythen polemisierend, als „roten Karneval“ (S. 131), der mit der maslenica, der Butterwoche, zusammenfiel. Der „Hegemon“, das Industrieproletariat, war mehr am Überleben als am Sozialismus interessiert. Der „Mann mit dem Gewehr“ (S. 257) kehrte der Front den Rücken, um das seelische Gleichgewicht wiederzuerlangen, die Bauern wandten sich von den Bolschewiki nach dem Oktoberumsturz ab. Letztere wandten sich von der Quasidemokratie ab und nahmen Kurs auf die Superdiktatur (S. 303).

Buldakov plädiert dafür, den revolutionären Prozess in der Zeit der Doppelherrschaft als Wettbewerb der Utopien (S. 343) zu lesen und zu untersuchen. Ein Blick in die Zeitungen vom Oktober 1917 zeigt, dass alle politischen Akteure einen Militärputsch, ein Pogrom, einen Aufstand vorhersagten. Doch niemand rechnete mit einem Staats­streich. (S. 358) Auch die Behauptung, die Bolschewiki hätten den Aufstand gegen die Provisorische Regierung langfristig und mustergültig vorbereitet, gehört nach Buldakov ins Reich der Legende. (S. 361) Die Bolschewiki verstanden es, den II. Sowjetkongress für ihre Ziele zu nutzen, und griffen die unter den Bauern populären Losungen auf. Sie verkörperten jene Kraft im linken Parteispektrum, die keine Skrupel hatte, auf der Welle der Gewalt zu reiten.

Die meisten Biografien über die Aktivisten und Führer dieser Parteien weisen einen Mangel auf: die Ausklammerung der Zeit der Wirren aus der Untersuchung (S. 391). Lenin zeichnete sich gegenüber den anderen russischen Parteiführern durch sein ausgezeichnetes Gespür für die spontane Bewegung aus. Er war ein Produkt der roten Wirren, die anderen, in erster Linie die Sozialrevolutionäre, waren ihr Bestandteil. (S. 422) Lenins Partei lebte von der Ungeduld der Massen. An die Stelle der Gewalt der Straße trat der staatlich gelenkte Terror. Ursprünglich sollte er den Klassenkampf entfachen, später hatte er eine staatserhaltende Funktion. (S. 470) Dieser Funktionswandel markiert das Ende der Zeit der Wirren (S. 509).

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Vladimir P. Buldakov Krasnaja smuta. Priroda i posledstvija revoljucionnogo nasilija. Izd. 2-e, dop. [Die roten Wirren. Wesen und Folgen der revolutionären Gewalt. 2., erw. Aufl.]. Moskva: Izdat. Rosspėn; Fond „Prezidentskij centr B. N. El’cina“ 2010. = Istorija stalinizma. ISBN: 978-5-8243-1263-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hedeler_Buldakov_Krasnaja_smuta.html (Datum des Seitenbesuchs)

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