Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Guido Hausmann

 

Volodymyr I. Holovčenko / Valerij F. Soldatenko: Ukrajins’ke pytannja v roky Peršoji svitovoji vijny. Monografija. [Die ukrainische Frage während des Ersten Weltkriegs. Monographie]. Kyjiv: Parlaments’ke vydavnyctvo, 2009. 447 S. ISBN: 978-966-611-690-4.

Zum ukrainischen Staatsbildungsprozess seit 1991 gehört wie bei den Nachbarn der Ukraine auch eine historische Erzählung über ukrainische Staatlichkeitstraditionen. Bei diesem Typus von Publikation verwundert immer wieder, wie unkritisch Kollegen im östlichen Europa die alte Rolle der Historiographie als Magd des Staates zu übernehmen scheinen, da es hier doch Kontinuitäten über das Jahr 1991 zurück gibt. Die beiden ukrainischen Historiker Holovčenko und Soldatenko untersuchen in der vorliegenden Monographie nur zum Teil dieukrainische Frage während des Ersten Weltkrieges, wie der Titel es vorgibt. Vielmehr stellen sie den Staatsbildungsprozess der Ukraine am Ende des Ersten Weltkrieges dar, indem sie zeigen, wie der neue politische Akteur versucht, sich mit dem Aufbau diplomatischer und vor allem vertraglicher Beziehungen zu anderen Mächten und besonders zu seinen unmittelbaren Nachbarn zu konstituieren.

Die knapp 450 Seiten starke und in einer Auflage von nur 300 Exemplaren im Kiewer Parlamentsverlag erschienene Publikation bietet dem westlichen Leser nur wenig neue Informationen an. Es handelt sich um eine klassische politikgeschichtliche Darstellung, die chronologisch auf den ersten einhundert Seiten den Hintergrund derukrainischen Fragein den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg und bis ins Jahr 1918 skizziert, bevor die folgenden sechs Kapitel detaillierter die Ukrainische Volksrepublik, die Besetzung der Ukraine durch die Mittelmächte und die Regierung von Pavlo Skoropadskyj sowie die erste Zeit des Direktoriums untersuchen.

Die englisch- und deutschsprachige Fachliteratur wird zum Teil berücksichtigt (Borow­sky, Bihl, Remer, Bachmann, Milow), aber nicht diskutiert; und es gibt generell weder im Text noch in den Anmerkungen eine explizite Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Auffassungen in der Forschung. Die Autoren stellen in Umrissen die so genannte Randstaatenpolitik des deutschen Kaiserreichs dar, sehen dieukrainische Frageaber nicht als Resultat einer österreichischen, deutschen oder polnischenIntrige‘ an, sondern als quasi zwangsläufiges Ergebnis der ukrainisch-russischen Beziehungen. Es fehlt eine Erörterung der Entstehung der Westukrainischen Volksrepublik im November 1918, und überhaupt werden die ukrainisch-polnischen Beziehungen nur recht oberflächlich behandelt. Der Brest-LitowskerBrotfriedewird dargestellt, gleichzeitig das folgende Skoropadskyj-Regime in der Ukraine weniger positiv bewertet als in einer Reihe anderer ukrainischer Publikationen aus dem letzten Jahrzehnt.

Interessanter und innovativer (da unbekannter) sind die Untersuchungen der Beziehungen der Volksrepublik, des Skoropadskyj-Regimes und des Direktoriums zu den politischen Akteuren Bessarabiens („bessarabische Frage“), der Krim, des Kuban, des Südkaukasus, der Donrepublik, Russlands und Weißrusslands. Denn hier verliefen parallel Staatsbildungsprozesse, es kam zu Verhandlungen über Friedensverträge, und fast überall gab es konflikthafte Grenzfragen in einer insgesamt sehr instabilen politischen Lage. Das gilt gegenüber Russland zum Beispiel für das Kursker Gebiet, das auch in den zwanziger Jahren wieder Anlass zu Grenzkonflikten geben sollte. Die Autoren beziehen hier zum Teil bisher unbekanntes Archivmaterial ein (vor allem aus dem Zentralen Staatlichen Archiv der Höheren Organe in Kiew). Doch bleibt eine Skepsis gegenüber der Darstellung, weil sie in diesen Teilen nicht umfassend genug ist und keine differierenden oder gegenteiligen Meinungen dargelegt werden. Hilfreich wäre auch Kartenmaterial gewesen, das man in der Publikation vermisst. Es werden parallel gleichzeitige Tendenzen der Bündnisbildung zu politischen Partnerschaften in einem postimperialen Raum dargestellt. Auch wenn viele Konstellationen des Jahres 1918 nicht Bestand hatten, so kann man am ehesten aus der Darstellung dieser Beziehungen zu den neuen politischen Nachbarn einigen Gewinn ziehen, weniger dagegen aus der Darstellung der Beziehungen zu den Mittelmächten, der Entente oder zu Polen.

Guido Hausmann, Jena

Zitierweise: Guido Hausmann über: Volodymyr I. Holovčenko / Valerij F. Soldatenko: Ukrajins’ke pytannja v roky Peršoji svitovoji vijny. Monografija. [Die ukrainische Frage während des Ersten Weltkriegs. Monographie]. Kyjiv: Parlaments’ke vydavnyctvo, 2009. 447 S. ISBN: 978-966-611-690-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Hausmann_Holovcenko_Ukrajnske_pytannja.html (Datum des Seitenbesuchs)

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