Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Jörn Happel
Vladimir P. Jampol’skij: „… Uničtožit’ Rossiju vesnoj 1941 g. …“ (A. Gitler, 31. ijulja 1940 goda). Dokumenty specslužb SSSR i Germanii. 1937–1945 gg. [„... Russland im Frühling 1941 vernichten ...“ (Hitler am 31. Juli 1940). Dokumente der Geheimdienste der UdSSR und Deutschland 1937–1945.] Moskva: Kučkovo pole, 2008. 656 S. ISBN: 978-5-901679-31-9.
Vladimir Jampol’skij, der beinahe ein halbes Jahrhundert für das sowjetische Militär und den sowjetischen bzw. russischen Geheimdienst gearbeitet hat, besitzt seit Jahrzehnten Zugang zu den brisantesten und interessantesten Quellen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Im Zentralarchiv des FSB ist er zuhause: Aus den dortigen Beständen, die „normalen“ Historikern versperrt bleiben, kann er aus dem Vollen schöpfen. Auch wenn es sich bei seinem Buch im Grunde um einen Sammelband handelt, in dem Jampol’skij seine Artikel aus den letzten 20 Jahren zum Thema des deutsch-sowjetischen Kriegs und vor allem zu dessen Anfangszeit erneut abdrucken lässt, werden gerade die hier enthaltenen langen Quellenzitate aufmerksame Leser finden, die keinen Zugang zu dem Zentralarchiv des russischen Geheimdienstes haben. Für deutschsprachige Leser wird etwa ein Drittel der Quellentexte interessant sein, denn der Rest sind ins Russische übersetzte Zeugnisse deutscher Herkunft: bekanntere Dokumente wie der Plan „Barbarossa“ oder etwa weniger bekannte Weisungen der Militär- oder der NS-Parteiführung hinsichtlich des Umgangs mit der Zivilbevölkerung in der Sowjetunion (so in Bezug auf die Blockade Leningrads). Daneben besteht jedoch trotz einer Fülle an höchst interessanten Quellen die Frage: Warum dieses Buch? Der Autor hat eine klare Vorstellung. Er hofft, dass die hier veröffentlichten Dokumente von den Regierungen der baltischen Staaten zur Kenntnis genommen würden. Dann nämlich würden diese mehr lernen über die estnische, lettische und litauische Beteiligung an den Verbrechen der Deutschen im Osten; und dies würde dann die Politiker auch zu einer „eher konstruktiven Politik“ in ihrer Beziehung gegenüber ihren russischsprachigen Einwohnern und bezüglich ihrer eigenen Vergangenheitsbewältigung führen (S. 10). Handelt es sich folglich um eine Quellendokumentation als Instrument heutiger Geschichtspolitik?
Jampol’skij bewegt diese Frage; er arbeitet sich sozusagen am Baltikum immer wieder ab. Doch besonders bei den das Baltikum betreffenden Dokumenten geht Jampol’skij oberflächlich vor: Die Einführungen in die Quellen sind entweder zu dürftig, suggestiv-rechthaberisch (etwa S. 338 f) oder zweifelsohne fragwürdig (S. 345). Es ist schrecklich, was einige Litauer ihren jüdischen Mitbewohnern antaten, indem sie sich selbst aktiv am Holocaust beteiligten (S. 325–330). Die Frage drängt sich aber unterschwellig auch an den Autor auf: Rechtfertigt dies etwa die zuvor vollzogene sowjetische Besetzung auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Pakts und die ab 1944 erfolgte „Befreiung“ durch die Rote Armee und somit die zweite Besetzung des Baltikums?
Generell fehlt dem Buch leider eine Systematik: Jampol’skij reiht seine in verschiedenen, meist in militärhistorischen Fachzeitschriften veröffentlichten Beiträge aneinander. Seine Kommentare können oft übersprungen werden, denn die Dokumente sprechen für sich. Lesenswert sind etwa die versammelten Verhörprotokolle: So des Deutschen Rainer Olzscha über die „Arbeitsgemeinschaft Turkestan“, die aus den von der Wehrmacht gefangengenommenen, aus Zentralasien stammenden Rotarmisten eigene Militärverbände zusammenstellte und deutschfreundliche Propaganda betrieb (S. 275–286); so das Verhör des Letten Bruno Tone über die Beteiligung der Letten am Kampf gegen die Rote Armee (S. 290–309); so die Verhöre des sowjetischen Generals Dmitrij G. Pavlov, der als Sündenbock für die Anfangsniederlagen der Sowjetarmee ausfindig gemacht und deswegen verurteilt und hingerichtet wurde (S. 454–516). Auch fasziniert die Fülle der hier abgedruckten Warnungen, die die Führung der Sowjetunion seit 1940 erreichten, sich auf einen deutschen Überfall vorzubereiten (404–453).
Letztlich liegt somit ein Buch vor, das dankenswerterweise die Artikel Jampol’skijs bündelt und dadurch eine informative Quellenedition über den Beginn des Großen Vaterländischen Kriegs liefert. Doch Kritik bleibt bestehen: Dem Rezensenten scheint es, als ob die Quellen zum Baltikum nicht angemessen kontextualisiert worden seien und dass somit bewusst mit den überlieferten Zeugnissen eine politische Botschaft transportiert werden soll.
Jörn Happel, Basel
Zitierweise: Jörn Happel über: Vladimir P. Jampol’skij: „… Uničtožit’ Rossiju vesnoj 1941 g. …“ (A. Gitler, 31. ijulja 1940 goda). Dokumenty specslužb SSSR i Germanii. 1937–1945 gg. [„... Russland im Frühling 1941 vernichten ...“ (Hitler am 31. Juli 1940). Dokumente der Geheimdienste der UdSSR und Deutschland 1937–1945.] Moskva: Kučkovo pole, 2008. 656 S. ISBN: 978-5-901679-31-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Happel_Jampolskij_Unictozit_Rossiju.html (Datum des Seitenbesuchs)
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