Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörn Happel

 

Fascination and Enmity. Russia and Germany as Entangled Histories, 1914–1945. Ed. by Michael David Fox, Peter Holquist and Alexander M. Martin. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2012. VI, 309 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies; Kritika Historical Studies. ISBN: 978-0-8229-6207-6.

Inhaltsverzeichnis:

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Interaktionen und Verwicklungen, Faszinosa und Feindschaften zwischen Deutschland und Russland vom Beginn des Ersten bis zum Ende des Zweiten WeltkriegsdieserSchicksalsgemeinschaftoder diesemSonderverhältnissind die zehn Beiträge des Sammelbands gewidmet. Sie werden eingerahmt von einer Einleitung, in der Michael David-Fox eine theoriegeleitete Beziehungsgeschichte von deutschen wissenschaftlichen und populistischen Blicken auf Russland und die Sowjetunion in der ersten Hälfte das 20. Jahrhunderts entwickelt, und von einem Schlusskapitel, in dem Dietrich Beyrau einen Forschungsüberblick gibt, in dem es auch um die Suche nach der russischen Seele und der deutschen Seelenlosigkeit geht. Zwar werden unterschiedliche Themen auf verschiedene Arten und Weisen besprochen, doch der zusammenhaltende, in Teilen innovative Wert liegt darin, dass alle Beiträge, von einzelnen menschlichen Erfahrungen ausgehend, das Faszinierende und Schreckliche in dieser besonderen europäischen zwischenstaatlichen Beziehung untersuchen.

Den drei Herausgebern ist zu danken, dass sie in ihrem Buchkonzept von einer vergleichenden Geschichte abrücken und stets die Verwicklungen im Blick haben, und dass sie die nationalsozialistische und die stalinistische Periode in die größere Zeitspanne zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg einfügen. Zunächst berichtet Laura Engelstein über die Kriegsverbrechen in Kalisz zu Beginn des Ersten Weltkriegs. In dem polnischen Ort im Westen des Zarenreichs habe Russlandein eigenes Belgienerlebt. Diese zeitgemäße Anspielung auf deutsche Verbrechen an der Westfront bestätigte zarischen Offiziellen und der Bevölkerung die Grausamkeit deutscher Kriegsführung. Und es steckt mehr darin: Wie im Westen wurde auch der Vorfall im Osten Teil einer Propagandaschlachtdie russische Seite, im Westen oft genug als unzivilisiert verlacht, konnte nun darauf hinweisen, dass diekultiviertenDeutschen die Scheusale waren. Die Zeitungsberichterstattung auf allen Seiten kreierte ihre eigene Geschichte des Massakers in Kalisz, das zahlreiche Todesopfer gefordert und die Stadt in ein Ruinenfeld verwandelt hatte. Innerhalb Russlands konnten die Vorfälle in Kalisz benutzt werden, die den Deutschen entgegengebrachten, mitunter positiven Gefühle zu zerstören und aus erschossenen zarischen Beamten Helden zu stilisieren. Engelstein gelingt in ihrem Beitrag der Perspektivenwechsel: Russische, deutsche und polnische Sichtweisen kommen zum Ausdruck. Heute sind die Vorgänge, anders als die im belgischen Löwen, kaum noch bekannt; in Polen wohl nur noch dank der FamiliensagaTage und Nächteder in Kalisz geborenen Maria Dąbrowska.

Oksana Nagornajas Geschichte deutsch-russischer Verwicklungen ist in den Gefangenenlagern des Ersten Weltkriegs angesiedelt. 1,5 Millionen russische Soldaten waren in die Gefangenschaft geraten und wurden im Kaiserreich mehr schlecht als recht versorgt. Hier interessiert sich Nagornaja zunächst für koloniale Stereotypen: Deutsche Wissenschaftler und Propagandisten besuchten die Lager und fühlten sich in einer Völkerschau, die ihre Rassengedanken bestätigte. In der russischen Auseinandersetzung mit den Deutschen und den Kriegsgefangenen bestand hingegen das Problem, dass bei einer Diskreditierung der Deutschen im Allgemeinen auch die Deutschen im Dienste des zarischen Imperiums verleumdet würden. Eine Verständigung über beide Grenzen hinweg war erst nach dem Krieg möglich. Durch die Vermittlung von Viktor Kopp auf russischer und Moritz Schlesinger auf deutscher Seite gelang der Austausch von Gefangenen und Interessen, von dem beide Seiten profitierten; am Ende dieses Prozesses habe dann auch der Vertrag von Rapallo gestanden.

Deutsche Arbeiter mit Bierkrügen auf einer Parteiversammlungdas war zu viel für Osip Pjatnickij bei seinem Besuch in Berlin. In Russland hatte er so etwas nie gesehen. Bert Hoppe nimmteiserne Revolutionäre und Salon-Sozialistenin den Blick und untersucht das Verhältnis zwischen Bolševiki und deutschen Kommunisten der Zwischenkriegszeit. Das Hauptproblem lag aber nicht in der Liebe zum Bier, sondern in der Geschwätzigkeit der Deutschen, die überall und allzu häufig Interna ausplaudertenso zumindest in der Wahrnehmung ihrer russischen Genossen. DasSpeaking Bolshevikmusste noch erlernt werden. Doch ein weiteres Verständigungsproblem lässt sich feststellen: Die Bolševiki erkannten nicht, dass ihre deutschen Genossen Wahlkampf betreiben mussten, während man in Moskau mit diktatorischer Macht regieren konnte. Hoppe gelingt in knappen Worten, auch anhand der Affäre um Ernst Thälmann wegen der Veruntreuungen von Parteigeldern, Stalins Einfluss auf die Kommunistische Partei Deutschlands zu zeigen. Die Affäre war sozusagen in Moskau bereinigt worden; die KPD wurde stalinistisch.

Jan C. Behrends setzt sich mit den Publikationen der Anti-Komintern auseinander und knüpft an Hoppes Beitrag an, indem er das (Berliner) Wirken der Komintern und das der deutschen Gesellschaften mit Ostinteressen in den 1920er und beginnenden 30er Jahren einander gegenüberstellt. Zwischen 1935 und 1938 erreichte dann die antisowjetische Propaganda in Deutschland ihren Höhepunktals Reaktion auf die verstärkte antifaschistische Haltung Moskaus. Zu einem Bestseller der Zeit wurde nun Karl AlbrechtsDer verratene Sozialismus, bevor seine Verbreitung nach dem Hitler-Stalin-Pakt ausgesetzt wurde, als auf beiden Seiten die Negativpropaganda schweigen musste. In einem Ausblick kann Behrends die in der BRD fortgesetzte antisowjetische Propaganda in der 1952 gegründeten Bundeszentrale für Heimatdienst ausmachen, doch der politische Radikalismus aus der Weimarer Zeit war längst verloren gegangen. So gerieten auch Menschen in Vergessenheit wie Edwin Erich Dwinger (18981981), einer der populärsten Autoren im nationalsozialistischen Deutschland. Peter Fritzsche beschreibt Aufstieg und Fall Dwingers, der als junger Mann im russischen Bürgerkrieg gekämpft hatte und anschließend gegen die Bolševiki anschriebso bei dem Überfall auf Polen 1939 (Der Tod in Polen. Die volksdeutsche Passion, 1940) oder während des Angriffs auf die Sowjetunion 1941 (Wiedersehen mit Sowjetrussland. Tagebuch vom Ostfeldzug, 1942).

Über den deutsch-sowjetischen Krieg berichtet Jochen Hellbeck. Seine Quellen sind Feldpostbriefe, die er geschickt verschiedenen Lesarten unterwirft: Deutsche lesen deutsche Briefe, Russen lesen deutsche Briefe und Russen lesen russische Briefe. Hellbeck möchte erfahren, wie Menschen sich im Krieg zurechtfinden und diesen unmittelbar erfahren und verarbeiten. Der Alltag des Krieges und die Sorgen um die Daheimgebliebenen werden deutlich. Mancher deutsche Soldat sah sich als Teil einesLichtkriegs gegen die Dunkelheit, wie der Heimat berichtet wurde. Auf sowjetischer Seite untersucht Hellbeck vor allem den Propagandisten und Schriftsteller Ilja Ehrenburg. An der Front war er beliebt, und seine Artikel wurden gern gelesen. Für seine journalistische Arbeit nutzte Ehrenburg die Briefe derFritze und der Gretchens. Auffallend war für ihn und andere sowjetische Leser, dass die Deutschen sich immer wieder über den Hunger beschwerten: Das Essen sei den Deutschen das Wichtigste, so ein Politoffizier. Bei sowjetischen Briefen, gelesen von sowjetischen Lesern, sind zunächst Zensurkategorien auszumachen. Dass der Großteil der Briefe keine Gefährdung sowjetischer Kampfmoral darstellte, mag eine Zahl illustrieren. In der beginnenden Schlacht um Stalingrad vom August 1942 wurden nur 128 von 190.367 Briefen konfisziert.

Katerina Clark nimmt neben Ehrenburg auch Vasilij Grossmann in den Blick und lässt sie als zwei kosmopolitische jüdische Schriftsteller mit Kriegserfahrung auftreten. Beide spielen auch im Buchbeitrag von Oleg Budnitskii eine Rolle. Dieser konzentriert sich auf die Erfahrungen, die gebildete jüdische Sowjet-Offiziere bei ihrem ersten Kontakt mit den Deutschen in den letzten Kriegsmonaten und unmittelbar nach dem Sieg der Roten Armee in Deutschland machten. Sein umfangreicher Beitrag ist in sieben Abschnitte gegliedert, die die Gefühle und das Verhalten mancher der von ihm untersuchten Männer beschreiben: die Rachewünsche, die Rolle des Judentums bei den Soldaten, der Abtransport vonKriegstrophäen(auch Alltagsgegenständen), die Vergewaltigungen der deutschen Frauen, die verbotene Liebe zwischen Sowjets und den Deutschen, die Liebe der Deutschen zu Gegenständen (die Rotarmisten waren überrascht über den Reichtum an Dingen in den Häusern) und letztlich die Erfahrung von Freiheit im Westen.

Mit Dietrich Beyraus Schlussüberlegungen endet ein Sammelband, der sein Versprechen einlöst, die Ambivalenz von Faszinosum und Feindschaft in individuellen Geschichten herauszuarbeiten. Neben der flüssigen Sprache dürften es vor allem die einzelnen Themen sein, die beim Publikum auf Interesse stoßen werden. Anlässe zum Weiterdenken sind jeweils gegeben: etwa ein Vergleich der Berichterstattung über russische und deutsche Kriegsverbrechen während des Ersten Weltkriegs; die Stellung deutscher Kriegsgefangener im untergehenden Zarenreich und ihre Ausschaffung zu Beginn der 1920er Jahre; die sowjetische Erwartung einer deutschen sozialistischen Revolution zwischen 1918 und 1924; oder ein Vergleich der Propaganda zum Spanischen Bürgerkrieg in Nazi-Deutschland und der SowjetunionThemen, die den transnationalen Aspekt im individuellen Erfahren des Anderen untersuchen. Einen Zugang dazu könnten die hier vorgestellten Quellen bieten: Tagebücher, Briefe, Zeitungsberichte, Literatur. Vielleicht würde sich auch ein stärker biographisch arbeitender Gesamtblick anbieten, wenn es denn eine russisch-deutsche Biographie geben sollte, die alle Epochen von Faszinosum und Feindschaft abdecken würde.

Jörn Happel, Basel

Zitierweise: Jörn Happel über: Fascination and Enmity. Russia and Germany as Entangled Histories, 1914–1945. Ed. by Michael David Fox, Peter Holquist and Alexander M. Martin. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2012. VI, 309 S. = Pitt Series in Russian and East European Studies; Kritika Historical Studies. ISBN: 978-0-8229-6207-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Happel_David-Fox_Fascination_and_Enmity.html (Datum des Seitenbesuchs)

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