Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Jörn Happel
Rossija – Srednjaja Azija. T. 1: Politika i islam v konce XVIII – načale XX vv. [Russland – Mittelasien. Bd. 1: Politik und Islam vom Ende des 18. bis zum Anfang des 19. Jh.] Avtorskij kollektiv: S. N. Abašin, B. M. Babadžanov, V. A. Germanov, V. A. Ivanov, F. M. Muchametšin, R. N. Šigabdinov. Moskva: Izdat. gruppa URSS, 2011. 469 S., Abb. ISBN: 978-5-9710-0337-3.
Inhaltsverzeichnis:
http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a21_1/apache_media/BYRRMRVV4UK23U4912GAFQUH4J1KX.pdf
Rossija – Srednjaja Azija. T. 2: Politika i islam v XX – načale XXI vv. [Russland – Mittelasien. Bd. 2: Politik und Islam im 20. und beginnenden 21. Jh.] Avtorskij kollektiv: S. N. Abašin, B. M. Babadžanov, V. A. Germanov, V. A. Ivanov, F. M. Muchametšin, R. N. Šigabdinov. Moskva: Izdat. gruppa URSS, 2011. 362 S., Abb. ISBN: 978-5-9710-0329-8.
Inhaltsverzeichnis:
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Zentralasien wird in der russlandbezogenen Geschichtswissenschaft seit Jahren verstärkt untersucht – sei es im Rahmen der zarischen Kolonialpolitik, der sowjetischen Nationalitäten- und Ressourcenpolitik (hier besonders hinsichtlich der Wasserproblematik beziehungsweise der damit oft zusammenhängenden Baumwollindustrie), des Naturschutzes (auch der Zerstörung des Aral-Sees) oder in Fragen der islamischen Religion. Sieben Autoren haben sich nun zusammengefunden, um in zwei Bänden die gemeinsame russisch-zentralasiatische Geschichte und Gegenwart zu beleuchten. Im Zentrum steht hierbei die Auseinandersetzung zwischen „Politik und Islam“. Dabei gelingt ein Überblick vom Ende des 18. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Bände sind chronologisch aufgebaut und erheben nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, sondern es werden bewusst Fallstudien vorgestellt. Ungeachtet der Existenz einer Fülle von fundierter Literatur aus Westeuropa und den USA überrascht jedoch, dass die Autoren diese kaum – in mehreren Kapiteln überhaupt nicht – wahrgenommen haben; so bleibt der Forschungsstand manchmal auf dem der sowjetischen Zeit stehen. Trotzdem werden interessierte Leserinnen und Leser mit diesem Doppelband in Teilen ein gutes Überblickswerk erhalten.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren die drei Chanate Buchara, Chiva und Kokand im Umbruch und in der Krise. Diesem „System der drei Chanate“ ist der erste Abschnitt des ersten Bandes gewidmet. Am Ende dieser kurzen Periode stehen russische Truppen, die ab den 1860er Jahren Zentralasien in ihren Besitz nehmen. Der Islam in der Großregion sei zunächst in eine Phase der Stagnation verfallen, doch blieben die islamische Ausbildung und auch islamische Rechte (Beispiel: Waqf: die fromme Stiftung) bestehen, und sie schufen Kontinuität über den beginnenden Herrschaftswechsel hinweg. Hier bereits dreht sich ein Abschnitt um radikale Strömungen im Islam, auf die einzelne Kapitel beider Bände verweisen. So gab es in Buchara im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts Versuche einer „mudžaddiskaja reformacija“ (Bd. 1, S. 70 f., 79). Anders als in den Städten lief gleichwohl die „islamische Entwicklung“ unter den Nomaden Zentralasiens ab. Die Autoren schauen hierbei besonders auf die Kasachen und deren Beeinflussung durch die Sufi-Orden (Bd. 1, S. 84 ff.).
Die Errichtung des Generalgouvernements Turkestan fand russischerseits im Rahmen der Great Game genannten Auseinandersetzung mit England statt. Mit dieser Gegenüberstellung der Großmächte beginnt Teil 2. Die einzelnen Eroberungsschritte werden ebenso aufgezeigt wie die Haltung islamischer Geistlicher, die zunächst weitestgehend von den Eroberern ignoriert worden waren. Erste Probleme gab es schließlich in der Einstellung zur islamischen Rechtsprechung (Bd. 1, S. 135–137), trat doch das Zarenreich als zivilisatorische und europäisch-rechtsprechende Macht auf (Bd. 1, Kapitel 3, S. 151 ff.). Nicht vergessen wird von den Autoren, dass eine weitere Macht um Einfluss unter den Zentralasiaten kämpfte: das Osmanische Reich. Die nach Istanbul bestehenden Kontakte werden als politische, ökonomische und kulturelle charakterisiert (Bd. 1, S. 196 ff.). Besonders die beinahe in einen Krieg mündende Krise zwischen dem Zarenreich, dem Osmanischen Reich und England im Jahr 1907 wird besprochen, einschließlich der Einmischung zentralasiatischer „Kreise“ (Bd. 1, S. 211–213). Anschließend gehen die Autoren auf die Bedeutung des Aufstands von 1916 in Zentralasien ein als eines Versuchs, die Kolonialherrschaft abzuschütteln (Bd. 1, S. 217 f., 222). Zudem ist der Einfluss der Tataren in der Region ein Thema (Bd. 1, S. 258–266), bevor – mit einigen Redundanzen – die Herausbildung nationaler Eliten in Turkestan besprochen wird. Hierbei geht es um Einheimische, die im Dienst der Zaren standen. Als ein Beispiel dient der 1860 in Orenburg geborene Mir Chajdar Kasymovič Mirbadalev (gest. im Exil 1938), der eine Karriere im zarischen Dienst (bis zum General) hinter sich brachte und nach dem Sturz der Monarchie ins Exil gehen musste, von wo aus er weiterhin Einfluss auf Buchara auszuüben versuchte (Bd. 1, S. 275–284, 287 f.). Andere Beispiele sind der General Džurabek und der Oberst Bababek, die zunächst in Opposition zum Zarenreich standen, dann sich loyal verhielten und Karriere machten (S. 305–324; eine gelungene Fotogegenüberstellung Džurabeks einerseits in zarischer Uniform, andererseits im einheimischem Chalat auf S. 327).
Nicht fehlen darf in einem Band über den Islam und die zarische Politik in Zentralasien offenbar ein Abschnitt über den Aufstand in Andižan von 1898. Hier wird die neuere internationale Forschung zusammengefasst und der Aufstand damit erfrischend in die allgemeinen Umstände der Zeit und des Ortes eingeordnet (Bd. 1, S. 359–374). Deutlich werden die Nachwirkungen des schlecht geplanten Aufruhrs vor allem hinsichtlich der Sorgen der Kolonialmacht: Panislamismus und Pantürkismus wurden nun zu Feinden erklärt. Dabei gab es in den Reihen der „Einheimischen“ keine klaren panislamischen oder pantürkischen Fronten; dies tritt deutlich bei der zeitgleichen Auseinandersetzung zwischen den islamischen Reformern zutage – den Džadidisten, bei denen die Frage allzu oft lautete, ob sie denn gegen die Russen oder gemeinsam mit ihnen vorgehen sollten (Bd. 1, S. 390).
So wie der erste Band mit den Chanaten begonnen hat, so endet er auch damit, indem die Frage erörtert wird, welche Reformen in Buchara und Chiva angestrebt worden waren und welche Probleme bei der Transformation innerhalb der dortigen Gesellschaften während des ausgehenden Zarenreichs bestanden. Mit dem Reformbedarf Zentralasiens beginnt dann auch Band 2: Jetzt geht es um die Neugestaltung von Land und Leuten – ein „sowjetischer Islam“ und „sowjetische Muslime“ sollten nach der geglückten Oktoberrevolution und dem von den Bol’ševiki gewonnenen Bürgerkrieg ge- und erfunden werden. Davon handelt das erste Kapitel, abermals mit besonderer Berücksichtigung von Buchara (Bd. 2, S. 27 ff.) und Chiva (Bd. 2, S. 54 ff.). Und wieder ist die Rede von den Džadidisten (Bd. 2, S. 120–135, 150–152). Provokant wird eingangs die Frage gestellt, ob es einen „asiatischen Kommunismus“ gegeben habe, d.h. ob der Islam auf den Kommunismus vor Ort eingewirkt habe. Hinweise werden besonders in der frühen Bildungspolitik aufgespürt, die džadidistisch beeinflusst gewesen sei (S. 73). Trotz des Kommunismus – und trotz der Zurückdrängung und der Vernichtung von Lehrmaterial mit islamischen Tendenzen beziehungsweise der Schließung von religiösen Schulen (Bd.‑2, S. 95–108, 115 f.) – blieb die Religion für viele Menschen über Jahrzehnte hinweg ein Teil ihrer Lebenswelt (Bd. 2, S. 80).
Das zweite Kapitel des zweiten Bands nimmt sich des Islams in Usbekistan an und beschreibt den Weg von der Unterdrückung der Religion zum Kampf um die nationale Identität nach dem Zerfall der Sowjetunion. Nun erhielt die Religion wieder Aufwind. Zunächst wird ein Überblick über die Epoche der Zugehörigkeit zur Sowjetunion gegeben, wobei die Rolle der Frau und deren Befreiung aus starren Traditionen besonders beleuchtet wird, wenngleich nach dem Zweiten Weltkrieg die gesellschaftliche Gleichstellung der Frau in Usbekistan wieder abnahm (Bd. 2, S. 180–181). Während des Kriegs konnten die Religionen im Allgemeinen eine stärkere Position zurückgewinnen, so auch der zentralasiatische Islam, der ab 1943 eine eigene Verwaltung unterhalten durfte (Bd. 2, S. 191 ff.), in der sich bis in die Perestroika-Zeit hinein starke Fürsprecher mit großem Einfluss auf die Politik etablieren konnten (Bd. 2, S. 203 ff.).
Die Kapitel 3 und 4 widmen sich aktuelleren Abschnitten der islamischen Geschichte Zentralasiens. Zunächst geht es um die Wahhabiten in der Region. Während der Perestroika brach zwischen ihnen und den Chanafisten ein Streit um die Moscheen aus, in dessen Folge zahlreiche neue Gebetshäuser errichtet wurden, um den Konflikt zu entschärfen (Bd. 2, S. 234–235), wobei dieser dennoch anhielt (Bd. 2, S. 237). Seit der Unabhängigwerdung der Republiken streben islamische Vertreter danach, wieder ihre althergebrachte starke Funktion in den Gesellschaften einzunehmen, wobei einzelne Strömungen um größeren Einfluss kämpfen – radikal seien aber nur wenige (Bd. 2, S. 253–256). Um die radikaleren und terroristischen Gruppierungen geht es in Kapitel 4, in dem auch Afghanistan thematisiert wird (Bd. 2, S. 273–283) und die tragischen Unruhen von 2005 in Andižan erzählt werden (Bd. 2, S. 304–314). Der Band wird abgeschlossen mit einem Kapitel über das heutige Usbekistan. Die Autoren zeigen, wie das Land zwischen geopolitischen und regionalen Fragen einen gemeinsamen Weg von Politik und Islam zu finden versucht.
Beide Bände zeichnet aus, dass sie einige Bilder islamischen Lebens abdrucken. Besonders Band 1 besticht mit einer Fülle von Postkarten aus Zentralasien. Zwar werden diese nicht weiter besprochen, was sich angeboten hätte, doch werden rare Aufnahmen gezeigt, die von örtlichen Unternehmern oder von den bekannten Postkartenvertrieben des Zarenreichs (etwa „Šnajder“ oder „Šerer & Nabgol’c“) in Umlauf gebracht worden waren. Sie zeigen islamisches und christliches (Zusammen-)Leben in der Großregion und illustrieren die Abschnitte zum Handel, zum Beten und zu den religiösen Bauwerken. Das Fazit kann kurz ausfallen: Die Bände sind gut aufgebaut, einige Kapitel sind aber dennoch etwas wirr strukturiert. Insgesamt ist aber ein wichtiger Beitrag zur Forschungsliteratur entstanden.
Zitierweise: Jörn Happel über: Rossija – Srednjaja Azija. T. 1: Politika i islam v konce XVIII – načale XX vv. [Russland – Mittelasien. Bd. 1: Politik und Islam vom Ende des 18. bis zum Anfang des 19. Jh.] Avtorskij kollektiv: S. N. Abašin, B. M. Babadžanov, V. A. Germanov, V. A. Ivanov, F. M. Muchametšin, R. N. Šigabdinov. Moskva: Izdat. gruppa URSS, 2011. 469 S., Abb. ISBN: 978-5-9710-0337-3; Rossija – Srednjaja Azija. T. 2: Politika i islam v XX – načale XXI vv. [Russland – Mittelasien. Bd. 2: Politik und Islam im 20. und beginnenden 21. Jh.] Avtorskij kollektiv: S. N. Abašin, B. M. Babadžanov, V. A. Germanov, V. A. Ivanov, F. M. Muchametšin, R. N. Šigabdinov. Moskva: Izdat. gruppa URSS, 2011. 362 S., Abb. ISBN: 978-5-9710-0329-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Happel_Abasin_Rossija_Srednjaja_Azija.html (Datum des Seitenbesuchs)
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