Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Simon Hadler

 

Nathaniel D. Wood: Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XIV, 272 S., Abb. ISBN: 978-0-87580-422-4.

Lustmorde, Autounfälle, Flugzeuge, der Schmutz der Großstadt in moralischer und hygienischer Hinsicht – das waren Themen, die man (teilweise nicht erst) um 1900 mit den rasch anwachsenden Metropolen der Welt assoziierte. Doch was hat Krakau, jene galizische Stadt, die ihren Vergangenheitskult pflegte und den Ruf eines nationalen Zentrums und eines polnischen Athens genoss, mit solchen Phänomenen zu tun? Weit mehr, als es bisherige historische Darstellungen zur Stadt glauben machen wollen, stellt man bei der Lektüre von „Becoming Metropolitanfest. Während üblicherweise die nationale Bedeutung Krakaus zu dieser Zeit betont wird, sei es in der Kunst, der Politik oder bei patriotischen Feierlichkeiten, geht Nathaniel Wood anderen mächtigen Identifikationsangeboten nach: Modernisierung, Europäisierung, urbanes Selbstbewusstsein und großstädtisches Lebensgefühl.

Er bedient sich dabei vorrangig einer äußerst ertragreichen Quellengattung, nämlich jener illustrierten Tageszeitungen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu tatsächlichen Massenmedien avancierten. Ludwik Szczepański und Maryan Dąbrowski revolutionierten das Krakauer Pressewesen, indem sie, internationalen Vorbildern folgend, Blätter herausbrachten, die auf seitenlange Politikberichterstattung verzichteten und stattdessen auf aufmerksamkeitsheischende Bilder setzten, auf lokale Ereignisse und internationale Sensationen. Sie machten ihre Leserschaft mit Vorstellungen von Großstadt und Modernität vertraut, indem sie von anderen Metropolen erzählten und umgekehrt diese Geschichten auch in der eigenen Stadt verorteten. Dabei nahmen diese Zeitungen eine ambivalente Position gegenüber diesen Themen ein, wie Wood an unterschiedlichen Beispielen ausführt.

Ausführlich widmet er sich etwa dem Thema der Eingemeindung von Nachbarorten, dem die Zeitung „Nowiny dla wszystkich“ in den Jahren 1903 und 1904 eine Serie von Artikeln widmete. Darin diskutierte sie die Pläne mit Politikern der beteiligten Kommunen, mit Bürgern und sogar mit dem „König der Schmuggler“. Wood verweist hier und auch anhand anderer Beispiele in seiner Analyse auf die überwiegend pragmatischen Argumente auf allen Seiten. Moderne Infrastruktur und zivilisatorischer Fortschritt wurden mit Hinweis auf westliche Vorbilder und das Bedürfnis nach ‚europäischen‘ Verhältnissen gefordert, während das Betonen der nationalen und historischen Bedeutung der Stadt nur eine recht geringe Rolle spielte. Der Autor zeichnet ein ausgewogenes Bild der Debatte, er entlarvt das nationale Argument als mehr oder weniger rhetorische Floskel. Zu fragen bliebe, ob sich nicht dasselbe auch über den häufigen Bezug auf Europa oder die vage Vorstellung eines kulturellen Fortschritts sagen ließe.

Während die Zeitungen die Stadterweiterung weitgehend unterstützten, war ihre Berichterstattung zur Einführung der elektrischen Straßenbahn oder zum Aufkommen von Autos und Flugzeugen zwiespältig. Auf der einen Seite spielte man in Form dramatischer Schilderungen von Unfällen oder morbid-humoristischer Zeichnungen mit den Ängsten der Leserschaft, auf der anderen Seite verstand man sich selbst als Speerspitze des Fortschritts. So mokierte man sich bald über die langsame Geschwindigkeit und das schlechte Management der Straßenbahnen oder organisierte eine Werbefahrt mit dem Auto durch Galizien.

Ähnliches lässt sich auch über die in den Zeitungen vermittelten Vorstellungen von der öffentlichen Ordnung und von den moralischen und hygienischen Verhältnissen in einer Großstadt sagen. Die Illustrierten schilderten und beklagten ausführlich die Abgründe und Gefahren der Metropolen und bedienten gleichzeitig die Lust am Voyeurismus. Indem sie auch konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation diskutierten, hielten sie an ihrem prinzipiellen Fortschrittsglauben fest.

Das Buch überzeugt auf vielfältige Weise. Hervorgehoben werden muss etwa die profunde Analyse des Mediums der illustrierten Zeitung: Detailliert dargestellt werden das komplexe Zusammenspiel von visuellen Reizen und dem Tratsch und den Gerüchten der Straße, das Verhältnis zu modernen Kommunikationstechniken oder die Vermittlung von in anderen Städten bereits erprobten Orientierungsmustern. Im Vergleich dazu verblasst die Serie von Fotografien aus den Krieger-Studios leider ein wenig zu einem dekorativen Element. Das wird jedoch mehr als nur wettgemacht durch die Analyse der in den Zeitungen abgedruckten Zeichnungen, etwa wenn der Autor auf die durch diese Bilder vermittelten Geschlechterrollen verweist. Überhaupt macht die Vielfalt an angerissenen Themen das Buch zu einer Alltagsgeschichte Krakaus im besten Sinne und sie macht Lust, sich mancher dieser Phänomene des urbanen Lebens vertiefend anzunehmen. Das wichtigste Verdienst des Autors ist jedoch zweifellos, dass er überzeugend darlegen kann, dass für große Teile der Stadtbevölkerung weniger die Geschichte und die Nation von Bedeutung waren, als vielmehr der Wunsch nach funktionierender Infrastruktur und nach Teilhabe an einer „inter-urbanen Matrix“ aus bestimmten Bildern, Identitäten, Hoffnungen und Ängsten. Dabei geht es ihm nicht um ein Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Diskurse, sondern darum, die Mehrdeutigkeiten und die heterogenen Identitätsangebote im urbanen Alltag zu betonen.

Simon Hadler, Wien

Zitierweise: Simon Hadler über: Nathaniel D. Wood Becoming Metropolitan. Urban Selfhood and the Making of Modern Cracow. DeKalb, IL: Northern Illinois University Press, 2010. XIV. ISBN: 978-0-87580-422-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hadler_Wood_Becoming_Metropolitan.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Simon Hadler. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.