Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Frank Grelka
Dierk Ludwig Schaaf: Der vertuschte Verrat. Churchill, Stalin und der Tod Sikorskis. Osnabrück: fibre, 2013. 223 S. ISBN: 978-3-938400-95-1.
Die richterliche Entscheidung über die Ursachen der Flugzeugkatastrophe von Gibraltar, so der Name der Untersuchung des Instituts des Nationalen Gedenkens (IPN), ist seit dem 30. März 2014 rechtsgültig. Nach einer rund fünfjährigen Beweisaufnahme, im Zuge derer die Leiche des Protagonisten des vorliegenden Bandes exhumiert worden war, erklärte der leitende Staatsanwalt Marcin Gołębiewicz der Warschauer Abteilung des IPN im Dezember 2013, ohne jeden Zweifel könne ausgeschlossen werden, dass General Władysław Sikorski bereits vor dem Abflug von Gibraltar einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei. Am 4. Juli 1943 stürzte die britische Militärmaschine vom Typ Liberator kurz nach dem Start in das Mittelmeer. Nur der tschechische Pilot Eduard Prchal überlebte den Absturz, als dessen offizielle Ursache seit der Untersuchung der Regierung Winston Churchill 1943 eine Blockade des Höhenruders galt. Das IPN widersprach zwar nicht den technischen Ursachen für den Absturz, gleichwohl könne weder ausgeschlossen noch bestätigt werden, dass Sabotage im Spiel gewesen sei.
Über das Urteil des IPN hinaus, das als institutionelles Flaggschiff der polnischen Nationalgeschichte bezeichnet werden darf, versucht der Autor des vorliegenden Bandes, ein Komplott des britischen und sowjetisches Geheimdienstes zu rekonstruieren (S. 95–96), und sein Urteil geht eindeutig von einem Mordanschlag auf den Kopf der polnischen Exilregierung aus: „Stalin der Mörder und Churchill der Komplize, das ist unbewiesen und zurzeit nicht mit Dokumenten zu beweisen, aber es ist fast sicher. Diese Antwort ist plausibel, obwohl einige Mosaiksteine fehlen, weil sie vernichtet wurden, wahrscheinlich immer fehlen werden. Falsch ist auf jeden Fall die offizielle britische Version eines Absturzes wegen unauffindbarer technischer Probleme.“ (S. 184). Ziel des Anschlages war es laut dem Verfasser, einer Veröffentlichung über die sowjetische Urheberschaft des Massakers an mehr als 20.000 Angehörigen der polnischen Armee u. a. in Katyn’ bei Smolensk im Frühjahr 1940 zuvorzukommen. Eingerahmt von einer gelungenen Allegorie der Anschlagstheorie auf dem Buchumschlag – Foto der Unterzeichnung des Sikorski-Majskij-Vertrags vom Juli 1941, von himmel- bis meerblauer und blutroter Farbe untermalt – entwickelt der Verfasser in acht Kapiteln eine Chronologie der Anschlagstheorie. Hinter Gibraltar, den 25. Mai 1943 verbirgt sich eine Exposition, die nach einem kurzen Biogramm Sikorskis dessen Beziehungen zu den „Großen Drei“ sowie das Verhältnis zwischen Stalin und Churchill skizziert. Das Kapital Gibraltar, den 4. Juli 1943 zeichnet minutiös den Tag des Flugzeugabsturzes nach, gefolgt von einem Abschnitt zur ersten britischen Untersuchung aus demselben Jahr. Der zweite Teil des Buches ist der Interpretation der Ereignisse gewidmet. Im Kapitel Stalins Mann in London verbindet der Autor die Koinzidenz der Ereignisse – den Tag des vermuteten Anschlages und die Anwesenheit des sowjetischen Botschafters in London, Ivan Majskij, sowie des Chefs der britischen Abwehr in Spanien, Kim Philby auf dem Felsen – durch einen Spannungsbogen und folgert: „Es ist nicht bekannt, ob Maiski und Philby in Gibraltar zusammengearbeitet haben. Aber sie wären ein ideales Team gewesen.“ In Polen nach Sikorskis Tod wird dieser Verschwörungsplot in eine Reihe neben die Konferenzen von Teheran und Jalta, den Warschauer Aufstand und die Sowjetisierung Polens gestellt. Eine zweite britische Untersuchung in den späten sechziger Jahren und polnische Untersuchungen in den neunziger Jahren seien ebenfalls ohne Beweise für die Anschlagstheorie geblieben, ehe im abschließenden Kapitel die Komplizenschaft von Stalin und Churchill lediglich rhetorisch hinterfragt wird. Das Szenario, das hier gezeichnet wird ist teilweise recht stereotyp und beschränkt sich auf die Kritik bereits vorhandener Quellen. Was bleibt, ist eine weitere Spielart des Dramas um den polnischen Ministerpräsidenten mit einer eindeutigen Botschaft: So und nicht anders muss es gewesen sein. Ohne neue historische Erkenntnisse wirkt das wie ein apodiktischer Traktat eines polonophilen Autors, der für ein moralisches Recht des polnischen Staates auf die historische Wahrheit im „Fall Sikorski“ plädiert. Nach Ende des Kalten Krieges, so heißt es im letzten Absatz, sollten jenseits der Staatsraison Forschern sämtliche britische Akten offenstehen, das entspräche dem Prinzip von Fairplay und einer Geste der Entschuldigung, die der Verfasser von Moskauer Seite nicht zu erwarten scheint. Eine solche Narration, in dem Katyn’ und nicht Gibraltar der zentrale lieu de mémoire ist, steht offenbar unter dem Eindruck der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010. Jedenfalls distanziert sich der Verfasser nicht vom nationalpolnischen Diskurs zur Tradition der sowjetischen bzw. russischen Polen-Politik, der sowohl Sikorski als auch der russlandkritische Staatspräsident Kaczyński zum Opfer gefallen seien.
Zitierweise: Frank Grelka über: Dierk Ludwig Schaaf: Der vertuschte Verrat. Churchill, Stalin und der Tod Sikorskis. Osnabrück: fibre, 2013. 223 S. ISBN: 978-3-938400-95-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Grelka_Schaaf_Der_vertuschte_Verrat.html (Datum des Seitenbesuchs)
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