Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Frank Golczewski

 

Piotr Forecki: Reconstructing Memory. The Holocaust in Polish Public Debates. Frankfurt a.M., Bern, Bruxelles [usw.]: Lang, 2013. 287 S. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 5. ISBN: 978-3-631-62365-7.

In kaum einem anderen Land Europas wurden und werden die Auseinandersetzungen um die eigene Rolle im Zweiten Weltkrieg so erbittert und häufig geführt wie in Polen. Militärische Entscheidungen wie etwa die Sinnhaftigkeit der verschiedenen Aufstände und politische Rivalitäten der diversen Gruppierungen und Untergrundformationen wurden diskutiert, aber die häufigsten und emotionalsten Textgefechte kreisten und kreisen stets um das „polnisch-jüdische“ Verhältnis, welches (wie im polnischen Originaltitel dieses Buches) von vornherein die beiden Teile dieser Zusammenstellung als Antonyme begreift (Piotr Forecki: Od Shoah do strachu. Spory o polsko-żydowską przeszłość i pamięć w debatach publicznych. Poznań 2010).

Hierfür gibt es Gründe: Nicht nur wird mit dem immer wiederkehrenden Begriff der „polnischen Konzentrationslager“ (meist unabsichtlich) insinuiert, Polen hätten etwas damit zu tun, dass die meisten Vernichtungsstätten der Deutschen auf polnischem Gebiet eingerichtet wurden; auch die Frage, ob Polen Juden den Deutschen ausgeliefert oder sie vor ihnen gerettet hätten (beides kam vor), wird ebenso endlos und (da man sich nicht auf ein sowohl als auch einigen kann) ergebnislos diskutiert. Zur Debatte steht jedoch etwas weitaus Umfassenderes: Einerseits gab es vor 1939 in Polen heftigen und radikalen, auch rassistisch motivierten Antisemitismus, der nach dem Krieg nicht desavouiert, sondern verleugnet wurde. Seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert verfestigte sich andererseits die Vorstellung von der konstanten Opferrolle Polens, die sakralisiert („Christus der Völker“) und mit dem Blick auf die deutsche und sowjetische Besetzung zu einem axiomatischen Mantra wurde. In jedem Falle sollte Polen, sollte sein „guter Name“ gesichert bleiben.

Da eine solche moralische Eindeutigkeit ‚in der Natur‘ nicht vorkommt, führten bisher noch alle mehr oder weniger neuen Informationen, wie etwa die Aufdeckung und Untersuchung der Pogrome in Jedwabne und seiner Umgebung, Mordtaten Warschauer Aufständischer 1944 oder „Verstöße“ gegen die lange gehegten Sprachregelungen zu massiv in den polnischen Medien ausgetragenen Debatten.

Hierüber gibt es durchaus schon Publikationen (erwähnt seien nur: Antony Polonsky: „My brother’s keeper?“ Recent Polish debates on the Holocaust. London, New York 1990; Michael C. Steinlauf: Bondage to the Dead. Poland and the Memory of the Holocaust. Syracuse NY 1997; Marian Ehret: Polen und der Holocaust. Gedenkkultur und Öffentlichkeit am Beispiel des Konflikts um das Karmel-Kloster in Auschwitz. Darmstadt 2009; Stephanie Kowitz-Harms: Die Shoah im Spiegel öffentlicher Konflikte in Polen zwischen Opfermythos und Schuldfrage (19852001). Berlin 2014; Imke Hansen: „Nie wieder Auschwitz!“ Die Entstehung eines Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 19451955. Göttingen 2015), die sich mit einzelnen Abschnitten dieser Debatten befasst haben, so dass die Novität des vorliegenden Buches nicht in dem Ansatz an sich besteht. Forecki legte jedoch als erster in Polen die bisher umfassendste und (auch gegenüber dem polnischen Original) bis in die Gegenwart fortgeführte Bearbeitung vor, die nicht nur auf die zentralen Figuren des Diskurses eingeht, sondern auch die eher randständigen Thesen aufgreift, wodurch gerade in der Gegenwartsnähe deren Persistenz dokumentiert wird. Neben der Deskription liefert der Verfasser vor allem aber auch eine eingehende, bisweilen psychologisierende Analyse der Debatten, die es den Lesern gestattet, weitergehende Zusammenhänge zu verstehen.

Im westeuropäischen Diskurs überrascht wenig, dass kollektives Vergessen einen zentralen Aspekt der kollektiven Erinnerung ausmacht, für Polen ist diese Erkenntnis – zudem nicht nur auf die Ära der Volksrepublik bezogen – eine zumindest nicht häufige Sicht, und die Glorifizierung der eigenen Vergangenheit (was allerdings kein polnisches Monopol ist) ein bis heute zu beobachtendes Phänomen. Forecki zeigt jedoch den Zusammenhang zwischen der bis dahin fehlenden Aufarbeitung und den antijüdischen Maßnahmen um das Jahr 1968 auf, und er weist nach, wie die Aversion gegen den Lanzmann-Film Shoah aufbrandete, bevor diesen jemand in Polen gesehen hatte. Die Motive eines angeblichen Antipolonismus, die Lanzmann durch nicht besonders subtile Aussagen selber beförderte, hielten sich dann durch alle folgenden Stadien hinweg, aber Lanzmanns Film war es schließlich, der den Diskurs über die polnische Haltung zur Antisemitismus-Problematik eröffnete.

Zu den Highlights des Buches gehört die Analyse des Miłosz-Gedichts Campo di Fiori und des Błoński-Textes Die armen Polen blicken aufs Ghetto, der 1987 im katholischen Tygodnik Powszechny erschien. Forecki gelingt es hier, die anspruchsvollen Aussagen durchaus eigenwillig, aber völlig nachvollziehbar zu interpretieren, und das ist schon deswegen wertvoll, weil dort erstmals versucht wurde, die Trennmauer zwischen „Polen“ und „Juden“ zu erschüttern, was auf heftigen Widerstand traf. Wenn dann auf über 80 Seiten die Konflikte um Jedwabne beschrieben werden, so sind auch hier nicht die (letztlich bekannten) Inhalte selber, sondern deren Interpretation das Hervorzuhebende: Der Verfasser kontrastiert auf der einen Seite einen moralischen Diskurs, der in der Kenntnis der polnischen „Sünden“ einen wichtigen Aspekt der polnischen nationalen Identität erblickt, mit andererseits der Haltung derjenigen, die den „guten Namen“ Polens durch Verdrängung und Leugnung erhalten wollen und ihn damit erst beschädigen.

Dass Kardinal Glemp eine Entschuldigung für Jedwabne (allerdings nicht vor Ort) herausbrachte und dafür im Gegenzug eine „jüdische Entschuldigung“ für Handlungen „jüdischer“ Kommunisten nach 1945 erwartete, sieht Forecki richtig als einen Versuch der Aufrechnung und eine unwürdige Veränderung der Formel, die die polnischen Bischöfe 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder richteten.

Die Debatten wurden im 21. Jahrhundert persönlicher: Dies lag an der Person von Jan Tomasz Gross, der nach den Nachbarn über Jedwabne weitere Aufreger in Gestalt der Arbeiten über die Nachkriegszeit (Jan Tomasz Gross: Strach. Antysemityzm w Polsce tuż po wojnie. Historia moralnej zapaści. Kraków 2008; dt.: Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen. Berlin 2012) und die materiellen Gewinne der Nicht-Juden in der Shoah veröffentlichte (Jan Tomasz Gross / Irena Grudzińska-Gross: Złote żniwa. Kraków 2011; engl.: Golden Harvest. Oxford 2012. Eine deutsche Ausgabe gibt es bisher nicht) und dem die judenfeindlichen Arbeiten von Marek Jan Chodakiewicz gegenübergestellt wurden. Dass Gross (nicht ganz zu Unrecht) missionarischer Eifer vorgeworfen wurde, der über fachhistorische Usancen hinwegging, befeuerte das, was der Posener Wissenschaftler nicht ganz korrekt mit dem deutschen Wort „Historikerstreit“ charakterisierte. Das Buch endet mit der Diskussion um den Pasikowski-Film Pokłosie (Aftermath) von 2012, der Fiktion wiedergibt, aber an die Jedwabne-Story angelehnt ist.

Diesem sehr lesenswerten Buch hätte ein wenig Lektorierung (durch den Verfasser, denn von Peter Lang war sie nicht zu erwarten) gutgetan, sowie auch ein Versuch, in dieser englischen Ausgabe nicht nur die polnischen Übersetzungen (Anderson, Nora, Habermas) wichtiger Texte anzuführen.

Der Gesamteindruck ist jedoch gut. Dass eine Debatte ausbricht, ist bereits ein Zeichen dafür, dass es streitende Parteien gibt und dass das kollektive Übergehen der jüdischen Dimension bei den Ursachen der polnischen historischen wie gegenwärtigen Befindlichkeit thematisiert wird. Der Befund, dass die Repräsentanten der judenfeindlichen mythenbildenden Richtung jedoch durchaus nicht aufgegeben haben, ist ebenso deutlich.

Frank Golczewski, Hamburg

Zitierweise: Frank Golczewski über: Piotr Forecki: Reconstructing Memory. The Holocaust in Polish Public Debates. Frankfurt a.M., Bern, Bruxelles [usw.]: Lang, 2013. 287 S. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 5. ISBN: 978-3-631-62365-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Golczewski_Forecki_Reconstructing_Memory.html (Datum des Seitenbesuchs)

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