Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Eva Anne Frantz

 

Hanns Christian Löhr: Die Gründung Albaniens. Wilhelm zu Wied und die Balkan-Diplomatie der Großmächte 19121914. Frankfurt a. M. [etc.]: Lang 2010, 281 S., ISBN 978-3-631-60117-4.

Vor hundert Jahren kam es vor dem Hintergrund des Ersten Balkankriegs 1912/13 und des Zusammenbruchs des Osmanischen Reiches auf dem Balkan zur Unabhängigkeitserklärung Albaniens, der im Mai 1913 die Anerkennung des albanischen Staates durch die europäischen Großmächte folgte. Die knapp 6-monatige Herrschaft des deutschen Prinzen Wilhelm zu Wied als Fürst von Albanien im Jahr 1914 war bisher – sieht man von mehreren nichtveröffentlichten Diplom- bzw. Magisterarbeiten und Dissertationen wie auch wissenschaftlichen Artikeln ab – noch nicht Gegenstand einer detaillierten wissenschaftlichen Untersuchung. Anders als der Titel vermuten lässt, steht jedoch im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit, die Hanns Christian Löhr bereits 1992 als Dissertation vorlegte, nicht Wilhelm zu Wied, der lediglich im letzten Drittel der Studie aufscheint. Löhr beleuchtet das politische Handeln der europäischen Großmächte, unter deren Garantie Albanien seine staatliche Existenz überhaupt erst sichern konnte. Er betont in seiner Einleitung, dass er seine Arbeit nicht als einen Beitrag zur albanischen Nationalgeschichte verstehe, sondern die Beziehungen der Großmächte und ihre Rolle bei der Gründung Albaniens analysieren möchte. Ziel sei es, die Situation der internationalen Politik am Vorabend des Ersten Weltkriegs und die damalige Großmächtekonstellation aufzuzeigen. Er nimmt für sich in Anspruch, Neuland zu betreten, indem er die albanische Nationalgeschichte, die europäische Diplomatie und die Ursachen des Ersten Weltkriegs zusammenhängend betrachtet.

Als Hauptquellen dienen dem Verfasser einschlägige Aktenpublikationen Deutschlands und Österreich-Ungarns, sehr selten auch Großbritanniens, ergänzt durch nichtveröffentlichte deutsche und österreichisch-ungarische Archivbestände. Zudem verwendet Löhr publizierte Erinnerungen und Tagebücher. Neben zwei thematischen Einleitungskapiteln über die albanische Frage und das Großmächte-System seit 1815 sowie einer Zusammenfassung der Ergebnisse umfasst die chronologisch und thematisch gegliederte Arbeit elf Kapitel mit jeweiligen Unterkapiteln.

Zunächst skizziert Löhr auf der Grundlage von Sekundärliteratur die historischen Voraussetzungen der albanischen Staatsgründung, nämlich die albanische Nationalbewegung und die Interessen der Großmächte und der Balkanstaaten in Albanien. Die dann folgenden Abschnitte seiner Arbeit basieren nahezu ausschließlich auf der Auswertung diplomatischer Akten. Löhr beschreibt die langwierigen Verhandlungen auf der Londoner Botschafterkonferenz, auf der schließlich die Staatsform Albaniens als unabhängiges Fürstentum und die Grenzziehungen des neuen Staates beschlossen wurden. Deutlich wird der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn, das zusammen mit Italien hauptsächlich an einem lebensfähigen Albanien interessiert war, und Russland, das möglichst viel Territorium für Serbien und Montenegro herauszuschlagen versuchte. Deutschland, das in Albanien keine direkten Interessen verfolgte, unterstützte Österreich-Ungarn nicht immer bedingungslos, sondern war bis kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch an einer Zusammenarbeit mit Großbritannien interessiert. Dennoch zeigte sich bereits in diesen teils krisenhaft verlaufenden Verhandlungen, wie ausgeprägt der Gegensatz zwischen Dreibund und Entente war. Die Versuche Großbritanniens, zwischen den beiden Machtblöcken zu vermitteln, waren nur begrenzt wirksam. Löhr geht ausführlich auf die Entstehung der von den Großmächten erarbeiteten albanischen Verfassung sowie die Wahl des Kompromisskandidaten Wied als Fürsten ein und schildert dann die Tätigkeit des internationalen Verwaltungsrats in Shkodra, die Einrichtung der internationalen Kontrollkommission, die die Verwaltung und die Finanzen des Staates kontrollieren und zehn Jahre im Land bleiben sollte, sowie die Arbeit der internationalen Grenzkommissionen für Nord- und Südalbanien. Daneben thematisiert der Verfasser auch die Politik Serbiens, Montenegros und Griechenlands, die die Beschlüsse der Großmächte ablehnten. Wilhelm zu Wied, der erst im März 1914 nach Albanien kam, war von Beginn seiner Herrschaft an mit erheblichen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten konfrontiert. So konnte der genaue Verlauf der Nordgrenze nicht festgelegt werden, während im Süden die Sezessionsbestrebungen der epirotischen Griechen die Integrität des albanischen Staates bedrohten. Auch innerhalb des Landes schwand der Rückhalt für Wied bald: So war ein muslimischer Aufstand in Mittelalbanien ausgebrochen und in der albanischen Regierung traten Gegner auf. Der Handlungsspielraum des Fürsten war infolgedessen und nicht zuletzt aufgrund der Interessenskonflikte der Großmächte, die sich permanent in die Angelegenheiten Wieds einmischten, stark eingeschränkt. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte schließlich zum endgültigen Zusammenbruch der Herrschaft Wieds. Die von den Großmächten garantierte Anleihe wurde nicht weiter ausbezahlt, die Großmächte zogen ihre Truppenkontingente ab.

Gerade weil Löhr eine Studie zu einem bisher noch nicht umfassend bearbeiteten Thema vorgelegt hat, enttäuscht die Lektüre der Arbeit insgesamt. Der Leser vermisst einen theoretisch-methodischen Ansatz und eine Verortung des Themas in der Forschungslandschaft. Löhr ist einer diplomatiehistorischen Arbeitsweise verhaftet, die nicht ganz zeitgemäß erscheint und neuere Ansätze ignoriert. Wesentliche Inhalte des Untersuchungsgegenstandes sind bereits bekannt, der Leser erfährt somit wenig Neues. Lediglich in Detailfragen bezüglich des Großmächtesystems vermag Löhr neue Forschungsergebnisse zu präsentieren. Dennoch sind einzelne Kapitel mit Gewinn zu lesen. Spannend sind insbesondere die Abschnitte über die Tätigkeit der internationalen Grenzkommissionen und die Schwierigkeiten ihrer Arbeit; gerne hätte der Leser hier mehr erfahren. Insgesamt wäre sicherlich eine stärkere Miteinbeziehung der inneren albanischen Gegebenheiten lohnend gewesen. Das Erkenntnisinteresse Löhrs liegt in der Rekonstruktion der europäischen Diplomatie, tatsächlich erfolgt die Analyse der Mächtebeziehungen, aber auch der Politik der Balkanstaaten ausschließlich aus der deutschen und österreichisch-ungarischen Perspektive. Weder die Aktenpublikationen der anderen Mächte, noch die Albaniens und der übrigen Balkanstaaten wurden verwendet. Zudem wird deutlich, dass der Verfasser in albanischer Geschichte nicht sehr bewandert ist. Das Geschichtskapitel über Albanien ist oberflächlich und fehlerhaft, ebenso spätere Angaben zu inneralbanischen Verhältnissen während der Herrschaft Wieds. Albanische Sekundärliteratur wird, abgesehen von der englischen Ausgabe einer historischen Gesamtdarstellung und einem Artikel, nicht berücksichtigt. Die Verwendung der Ortsnamen ist uneinheitlich und teils nicht korrekt. Weitere Forschungen über die Herrschaft Wieds in Albanien unter Miteinbeziehung der inneralbanischen Faktoren und der Rolle der albanischen Akteure stehen noch aus.

Eva Anne Frantz, Wien

Zitierweise: Eva Anne Frantz über: Hanns Christian Löhr: Die Gründung Albaniens. Wilhelm zu Wied und die Balkan-Diplomatie der Großmächte 1912-1914. Frankfurt a.M. (etc.): Lang 2010, 281 Seiten, ISBN 978-3-631-60117-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Frantz_Loehr_Gruendung_Albaniens.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Eva Anne Frantz. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.