Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: David Feest
Sõja ja rahu vahel. Koguteos. Teine köide: Esimene punane aasta. Okupeeritud Eesti julgeoleku-poliitiline olukord sõja alguseni [Zwischen Krieg und Frieden. Sammelwerk. Zweiter Band: Das erste rote Jahr. Die sicherheitspolitische Lage von der Besetzung Estlands bis zum Kriegsbeginn]. Peatoimetaja Enn Tarvel, II köite toimetaja Meelis Maripuu [Hauptherausgeber Enn Tarvel, Herausgeber des zweiten Bandes Meelis Maripuu]. Tallinn: MTÜ S-Keskus, Rahvusarhiiv, 2010. 798 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-9985-9520-2-3.
Die Zeit der sowjetischen Besetzung Estlands ist in den letzten Jahren Gegenstand gleich zweier Handbuchprojekte geworden. Auf der einen Seite steht das monumentale zweibändige englischsprachige Werk „Estonia 1940–1945“, und „Estonia since 1944“, das als Auftragswerk der „Kommission zur Untersuchung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ (Präsidentenkommission) sowohl die sowjetische als auch die deutsche Besatzung im Zeitraum von 1940–1956 behandelt. Ihm gegenüber steht das auf zehn Bände ausgelegte estnischsprachige Sammelwerk „Zwischen Krieg und Frieden“, das für denselben Zeitraum die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik behandelt. Bislang sind zwei Bände erschienen. Auch wenn in diesem Fall Meelis Maripuu für die gemeinnützige Organisation „S-KESKUS“ als Herausgeber fungiert, gibt es, was die Autoren anbetrifft, starke Überschneidungen.
Um so überraschender ist es, dass die beiden Projekte viel mehr unterscheidet als die jeweilige inhaltliche Schwerpunktsetzung. Der hier rezensierte zweite Band von „Zwischen Krieg und Frieden“, der die sicherheitspolitische Lage des Landes von der sowjetischen Besetzung bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs behandelt, setzt grundsätzlich neue Akzente. So sticht zunächst die breitere internationale Kontextualisierung ins Auge, die sich noch aus der speziellen thematischen Ausrichtung der ganzen Reihe ergibt. Tõnu Tannberg und Magnus Ilmjärv zeichnen in ihren sehr informativen Beiträgen nicht nur ein Bild der allgemeinen internationalen Sicherheitslage, sondern auch die einzelner Länder Westeuropas. Auch andere Beiträge sind komparativ gearbeitet. Noch grundsätzlicher ist ein zweiter Unterschied zwischen beiden Handbüchern. Die ausführlichere Behandlung eines sehr kurzen Zeitraums erlaubt es im Falle des vorliegenden Bandes, die statischen Großkategorien des sowjetischen Aggressors auf der einen und der estnischen Opfer auf der anderen Seite hinter sich zu lassen. Auch wenn das rechtswidrige und brutale Vorgehen der Sowjetunion außer Frage steht – Lauri Mälksoo weist auf die wohlbekannten Fakten hin, dass das Zusatzprotokoll des Hitler-Stalins-Paktes das internationale Recht gleich in mehrfacher Weise brach –, wird hier viel mehr Augenmerk auf den Prozess der Okkupation und die dabei stattfindende Interaktion zwischen der Sowjetführung, der estnischen politischen Elite und der Bevölkerung gelegt. Das lässt viel Raum für Zwischentöne in der Darstellung, so etwa, wenn gezeigt wird, wie sich nationale Führungspersonen wie General Laidoner schon unmittelbar nach der Errichtung sowjetischer Militärbasen in Estland in die Rolle von Vollzugsvollstreckern sowjetischer Politik drängen ließen; aber auch, wenn Andrej Ždanov nach Dafürhalten von Jüri Ant und Maripuu trotz minutiöser Planung des Juniumsturzes von 1940 vollständig die Kontrolle über „aufständische Kommunisten“ aus der Roten Armee und einigen wenigen estnischen Kommunisten verlor, denen eine ganz andere Dramaturgie der Ereignisse vorschwebte.
Die estnische Führungsriege um Päts, Laidoner und Eenpalu erscheint bei alledem in einem schlechteren Licht, als es in der nationalen Geschichtsschreibung lange Zeit üblich war. Vom 18. bis zum 21. Juni, so Ant / Maripuu, wichen sie den Konflikten möglichst aus, wobei Päts nicht einmal versuchte, „an den Ereignissen aktiv teilzunehmen“. (S. 81) Widerstandspläne der politischen Eliten, so arbeitet Ilmjärv insbesondere aus sowjetischem Geheimdienstmaterial heraus, beschränkten sich auf die Absicht, gegebenenfalls bei Ausbruch eines deutsch-sowjetischen Krieges auf deutscher Seite gegen den sowjetischen Bündnispartner vorzugehen, hatten also einen abwartenden Charakter. Die einzige offizielle Handlung nationalen Widerstands, so schreibt es Indrek Paavle in einem Abschnitt über die endgültige Annexion, sei die letztlich wirkungslose Aufstellung von Gegenkandidaten bei den Wahlen zu jenem Obersten Sowjet gewesen, der am Ende den Anschluss an die Sowjetunion beschließen sollte. Die darauf folgende Zerstörung der alten Staats- und Verwaltungseinrichtungen sowie die damit verbundene Terrorpolitik wird von den ausgemachten Experten zu diesen Themen weitgehend deskriptiv dargestellt (neben Paavle und Kaasik noch Olev Liivik), wobei neben staatlichen und militärischen Organisationen besonders der paramilitärische „Schutzbund“ (Kaitseliit) behandelt wird – letzterer in fast schon übertriebener Detailverliebtheit. Zwei weitere instruktive Beiträge behandeln die unterschiedlichen Reaktionen der internationalen Staatengemeinschaft sowie der estnischen Diplomaten auf diese Entwicklungen (Ilmjärv und Arti Hilpus).
Die Gründe für die schnelle Selbstaufgabe sehen die Verfasser des Sammelbands nicht nur im Wirken einzelner Politiker, sondern auch im System. Bezeichnenderweise setzt Peeter Kaasik in seinem Beitrag über das „Kriegsrecht und seine Anwendung im Dienste der Okkupationsmacht“ nicht im Jahr 1940 oder 1934 an, sondern bereits 1918. An solchen Stellen hat es fast den Anschein, der Band behandle mehr die Konstruktionsfehler der estnischen Republik der Zwischenkriegszeit als ihre sicherheits- und außenpolitische Lage. Doch sind diese Themen kaum zu trennen. Wenn den riesigen Freiräumen, die den Organen für innere Sicherheit besonders nach 1940 gegeben wurden, sowie den gewaltigen Vollmachten, die das Gesetz von 1938 dem Präsidenten gab, besondere Bedeutung zugeschrieben wird, dann eben deshalb, weil diese der Sowjetmacht letztlich als Instrumente dienten, den estnischen Staat zu zerstören. Päts selbst unterschrieb jene Dekrete, welche die alte Ordnung aus den Angeln heben sollte.
Diese Umstände hatten auch Einfluss darauf, wie sich die breite Bevölkerung verhielt. Mart Laar gelingt es, quellennah die Haltungen und Stimmungen in der Bevölkerung zum Verlust der Eigenstaatlichkeit herauszuarbeiten; an der Ablehnung der Annexion kann dabei keine Frage bestehen. Dennoch blieb der Widerstand gering, und Laar bemüht sich in seiner umsichtigen und differenzierten Analyse, diesen Befund zu kontextualisieren. Ein Vergleich mit der Reaktion der Bevölkerung in den von Deutschland besetzten Ländern Frankreich, Dänemark und Norwegen bringt viele Parallelen zutage, was dem Verhalten der estnischen Bevölkerung während der ersten sowjetischen Okkupation den Sondercharakter nimmt und eine allgemeinere Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kollaboration ermöglicht. Hier wie da ist es schwer, zwischen alltagsweltlicher Anpassung, wirtschaftlichem Opportunismus oder individuellem Machtstreben zu unterscheiden, und Laars Darstellung besticht besonders durch analytische und psychologische Differenzierung. Der rote Terror, der bald nach der Inkorporation des Landes in die Sowjetunion einsetzte, tat ein Übriges, um die Bevölkerung einzuschüchtern und zu verunsichern. Doch schließt auch Laar an die Kritik der vorigen Beiträge an, indem er nicht nur den Terror, sondern auch das Verhalten estnischer Politiker sowie das systemische Erbe des autoritären Regimes unter Päts für die Passivität verantwortlich macht. Einparteienherrschaft, Zensur und politische Propaganda, so Laar, waren für die estnische Bevölkerung nichts Neues, da es auch in den Jahren der autoritären Herrschaft unter Päts nur eine einzige erlaubte und registrierte politische Organisation gab: der Vaterlandsbund (Isamaaliit). Unter diesen Bedingungen musste es sich besonders fatal auswirken, dass die führenden Politiker nach dem sowjetischen Einmarsch den Ernst der Lage völlig unterschätzten und den Widerstandswillen in der Bevölkerung ungenutzt ließen. Denn dieser, so kann Laar anhand einer Reihe von Beispielen überzeugend zeigen, war besonders in der jungen Generation durchaus vorhanden, äußerte sich aber weitgehend in Aktionen symbolischen oder passiven Widerstands.
Der Band, der anstrebt, ein Überblick über Militär- und Sicherheitspolitik Estlands im Jahr 1940 zu sein, erweist sich also in wichtigen Teilen auch als eine detaillierte Darstellung von Techniken der Okkupation und deren Rezeption durch die breitere Bevölkerung. In dieser Eigenschaft, sowie in dem problemorientierten und thesenhaften Vorgehen, bietet er eine willkommene Ergänzung zu dem weitgehend faktologischen Handbuch der Präsidentenkommission.
David Feest, Göttingen
Zitierweise: David Feest über: Sõja ja rahu vahel. Koguteos. Teine köide: Esimene punane aasta. Okupeeritud Eesti julgeoleku-poliitiline olukord sõja alguseni [Zwischen Krieg und Frieden. Sammelwerk. Zweiter Band: Das erste rote Jahr. Die sicherheitspolitische Lage von der Besetzung Estlands bis zum Kriegsbeginn]. Peatoimetaja Enn Tarvel, II köite toimetaja Meelis Maripuu [Hauptherausgeber Enn Tarvel, Herausgeber des zweiten Bandes Meelis Maripuu]. Tallinn: MTÜ S-Keskus, Rahvusarhiiv, 2010. 798 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-9985-9520-2-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Feest_Tarvel_Soja_ja_rahu_vahel_2.html (Datum des Seitenbesuchs)
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