Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Otto-Heinrich Elias

 

Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Ulrich Kronauer / Andreas Deutsch. Heidelberg: Winter, 2015. 490 S. = Akademie-Konferenzen, 20. ISBN: 978-3-8253-6532-5.

Inhaltsverzeichnis:

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Dieser Band vereinigt die Vorträge einer Tagung, welche die Forschungsstelle „Deutsches Rechtswörterbuch“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften im Jahre 2011 veranstaltet hat. Sie ist der Frage nach Toleranz und Glaubensfreiheit im 18. Jahrhundert gewidmet, also nach dem Verhältnis der Christen zu den Angehörigen anderer Religionen wie Judentum und Islam sowie vor allem der Christen zu der neuen, provokanten Gruppe der Zweifler und Atheisten. Drei Beiträge behandeln die Missionierung des Baltikums.

Mati Laur gibt eine Übersicht über Die Herrnhuter Brüdergemeinde in Est- und Livland im 18. Jahrhunderts und liefert damit eine kurze und prägnante Vorgeschichte des 1974 erschienenen, bekannten Standardwerks von Guntram Philipp über die Herrnhuter in diesen Ländern zur Zeit der Bauernbefreiung. „Ungläubige“ tauchen allerdings hier nicht auf, vielmehr handelt es sich um die erneute Missionierung der seit Jahrhunderten oberflächlich christianisierten bäuerlichen Bevölkerung durch eine auf intensive religiöse Erfahrung bedachte christliche Bewegung, die nicht von akademisch ausgebildeten Pfarrern, sondern von meist dem Handwerkerstand entstammenden deutschen Autodidakten getragen wurde. Diese „Zweitmissionierung“ war weit erfolgreicher als die erste. Die Herrnhuter lebten mitten unter den Esten und Letten und erlernten deren Sprache schneller und besser als die studierten Theologen. Das neue, intensivere Glaubensleben ging einher mit einem erstaunlichen Bildungsfortschritt. Die Bewegung erfasste auch viele Gutsbesitzerfamilien und deutsche Pastoren. Nach nur wenigen Jahren erfolgreichen Wirkens wurde die Bewegung 1743 von der Regierung verboten. Obwohl sie im Geheimen weiterbestand, erreichte sie nach ihrer Wiederzulassung im Jahre 1764 nicht mehr die Breite und Intensität ihrer Anfangsjahre. Mati Laur bescheinigt den Herrnhutern eine wichtige Rolle bei der Selbstverwirklichung und politischen Selbstfindung der Letten und Esten. Viele führende Persönlichkeiten der späteren nationalen Bewegung entstammten diesem Milieu. Vordergründig gesehen eine religiöse Erscheinung, muss man sie doch als einen politisch wirksamen Faktor anerkennen, kaum weniger wichtig als das Wirken der kritischen Schriftsteller in der Zeit der Aufklärung.

Die beiden anderen Aufsätze beschäftigen sich mit einer der wichtigsten Quellen zur mittelalterlichen Geschichte Livlands, der Chronik des Heinrich von Lettland. Ivar Lei­mus untersucht einen Kernbegriff der Chronik, die iura oder leges christiani bzw. christianorum, der in der deutschen und estnischen Literatur unterschiedlich interpretiert worden ist. Er bestätigt die schon 1740 von dem ersten Herausgeber der Chronik, dem Juristen und Historiker Johann Daniel Gruber in Hannover, vertretene Ansicht, dass es sich hier um einen Terminus handelte, der nicht nur die Rechte, sondern vor allem die Pflichten der christianisierten Heiden beschrieb und deren vertragliche Anerkennung eines neuen Rechtsstatus beinhaltete. Die politische Eingliederung der Unterworfenen war wichtiger als die religiöse. Sie verpflichtete die Getauften zu Steuerzahlung, Militärdienst und Bauarbeiten sowie zur Anerkennung des deutschen Gerichtswesens, beließ ihnen aber noch das Recht am eigenen Grundbesitz. Leimus stützt diese Interpretation mit zahlreichen überzeugenden Belegen.

Im zweiten dieser Beiträge mit dem Titel Der Ungläubige, der Unglaubwürdige beschäftigt sich Jan Undusk mit „der Begriffsbildung auf der Achse Glauben–Unglauben“. Die höherstehenden fideles (die Gläubigen) stehen den niederen infideles (den Ungläubigen) gegenüber; sie lebten in verschiedenen Welten, nicht nur hinsichtlich ihres Glaubens, sondern auch räumlich, politisch und juristisch. Undusk schließt hier eng an die Argumente von Leimus an; die Taufe ist ihm zufolge für den Chronisten nicht nur ein religiöser, sondern auch ein sozialer Akt. Der Getaufte wird glaubwürdig und damit juristisch vertragsfähig. Für den Editor Johann Daniel Gruber und seine Zeitgenossen beschrieb Heinrichs Chronik einen zivilisatorischen Vorgang; sie sahen in ihr ein Dokument des Fortschritts der Menschheit, eine Bewertung, der auch August Ludwig Schlözer zustimmte. Insofern gehört diese Edition zur Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. Sie bot aber nur wenig später auch die Grundlage für „die ideologische Kehre“ im aufklärerischen Geschichtsdenken, wonach die Christianisierung der Letten und Esten die verabscheuungswürdige, gewaltsame Unterjochung zweier edler Naturvölker gewesen ist. Undusk lässt hier die Phalanx der Kritiker aufmarschieren: Friebe, Jannau und Merkel (man könnte noch August von Kotzebue anführen, der 1808 in seiner Preußischen Geschichte die Schwertmission ebenfalls heftig verurteilte). Damit wurde, Undusk zufolge, die Missionsgeschichte der baltischen Völker ein „Problem der Interpretation“; seitdem existiert die „prinzipielle Vieldeutigkeit vieler baltischer Geschichten“.

Otto-Heinrich Elias, Vaihingen/Enz

Zitierweise: Otto-Heinrich Elias über: Der „Ungläubige“ in der Rechts- und Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Ulrich Kronauer / Andreas Deutsch. Heidelberg: Winter, 2015. 490 S. = Akademie-Konferenzen, 20. ISBN: 978-3-8253-6532-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Elias_Kronauer_Der_Unglaeubige.html (Datum des Seitenbesuchs)

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