Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Franziska Davies
Diljara M. Usmanova: Musul’manskoe „sektantstvo“ v Rossijskoj imperii. „Vaisovskij Božij polk staroverov-musul’man“. 1862‒1916 gg. [Islamisches „Sektierertum“ im Russländischen Reich. Das „Vaisov’sche göttliche Regiment der altgläubigen Muslime“, 1862‒1916.] Kazan’: Izdat. Fėn, 2009, 566 S., 38 Abb. ISBN/ISBN: 5-9690-0071-X.
Diljara Usmanovas Studie ist der Geschichte der so genannten Vaisov-Bewegung in den Jahren von 1862 bis 1916 gewidmet. Die Untersuchung besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil ist eine Darstellung der Vaisov-Bewegung zwischen 1862 und 1916, der zweite – umfangreichere – Teil umfasst eine Vielzahl edierter Quellen zur Geschichte der Bewegung vornehmlich aus dem Russischen Staatlichen Historischen Archiv (RGIA) in St. Petersburg und dem Nationalarchiv der Republik Tatarstan (NART) in Kazan’. In diesem Teil sind auch Reproduktionen von einigen der Originaldokumente zu finden.
Die Vaisov-Bewegung war eine Abspaltung des Naqshbandi-Ordens in der Wolga-Region und ging zurück auf ihren namensgebenden Gründer, Bagautdin Vaisov, dem es ab den frühen 1860er Jahren gelang, eine beträchtliche Zahl von Anhängern um sich zu sammeln. Usmanova begreift die Bewegung als ein religiöses, politisches und soziales Phänomen, welches als eine Reaktion auf die Transformationsprozesse im späten Zarenreich verstanden werden müsse. Auf Grund dieser Mehrdimensionalität sei es schwierig, sie begrifflich zu fassen: Der Begriff der Sekte lasse sich nur mit Einschränkungen verwenden, auch weil ihm im islamischen Kontext anders als im Christentum die negative Aufladung fehle. Die Bezeichnung „muslimische Altgläubige“ sei wiederum als Versuch der Vaisov-Bewegung zu werten, ihr Anliegen so zu übersetzen, dass es für die staatliche Verwaltung einen Sinn ergeben würde. Usmanova legt anschließend die Historiographie zum Thema dar, von ersten Untersuchungen der Bewegung im Zarenreich, die in der Regel im Auftrag des Staates entstanden, bis hin zu postsowjetischen Studien in Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie den Beiträgen von Michael Kemper, Allen J. Frank und Robert Crews. Quellengrundlage der Monographie Usmanovas sind Archivmaterialien aus Kazan’ und St. Petersburg, bei denen es sich in erster Linie um Bittschriften verschiedener Protagonisten der Bewegung, Gerichtsakten und nicht-publizierte literarische Erzeugnisse der Führer der Bewegung handelt. Außerdem hat Usmanova handschriftliche Biographien einiger zentraler Figuren und private Nachlässe für ihre Untersuchung verwendet.
Usmanova beginnt ihre Darstellung im Hauptteil mit einer Rekonstruktion der Lebensläufe der zentralen Figuren der Bewegung. Dazu zählt nicht nur Bagautdin Vaisov selbst, sondern auch sein Lehrer, Džagfar al-Kulatky, dem Vaisov ein Werk widmete. Anhand dieses Werkes und zahlreicher Bittschriften Vaisovs an staatliche Stellen macht Usmanova deutlich, dass Vaisov sich stets als loyaler Untertan und Diener des russischen Zaren verstand. Es waren die lokalen Behörden und die offizielle muslimische Geistlichkeit, mit der sich Vaisov in ständigem Konflikt befand und die er in seinen Schriften scharf angriff. Vaisov vollzog nicht nur ohne die Erlaubnis der Orenburger Muslimischen Geistlichen Versammlung religiöse Rituale, sondern er begann auch, eigene Register (metričeskie knigi) für die Mitglieder seiner Gemeinde zu führen. Der Konflikt mit der Staatsmacht erreichte im Jahr 1885 schließlich seinen Höhepunkt, als das „Gebetshaus“ Vaisovs in Kazan’ gestürmt wurde und er mit einigen seiner Anhänger vor Gericht gestellt wurde. Vaisov selbst wurde in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen, in der er einige Jahre später starb. Vor seinem Tod verfasste er noch ein Gedicht, in dem er seinen eschatologischen Vorstellungen vom bevorstehenden Ende der Welt Ausdruck verlieh und an die Muslime appellierte, zum „wahren“ Islam zurückzufinden, und vor der degenerierten muslimischen Geistlichkeit warnte. Ein theologisches Programm findet sich in den Schriften Vaisovs hingegen nicht. Usmanova schildert die prekäre Lage der Bewegung nach der Zerschlagung des Kazan’er Gebetshauses und dem Tod des Gründers bis zu ihrer Revitalisierung durch Bagautdin Vaisovs Sohn, Gajnan, der seinen Führungsanspruch in der Gemeinde nach 1905 offenbar durchsetzen konnte. Er richtete in Kazan’ abermals ein religiöses Zentrum ein, führte eigene Register für die Mitglieder seiner Gemeinde und stellte sogar eigene Pässe aus. Gleichzeitig versuchte er, die Anerkennung seiner Gemeinde als eine eigenständige religiöse soslovie zu erreichen. Insgesamt konstatiert Usmanova in dieser Zeit eine Politisierung der Bewegung, die über die religiöse Sphäre hinausgewiesen habe. Gleich blieb die Kommunikationsstrategie: Auch Gajnan Vaisov verfasste zahlreiche Bittschriften an staatliche Stellen, wobei drei Appellinstanzen für ihn und seine Anhängerschaft von besonderer Bedeutung waren: der Zar selbst, die Staatsduma und die Regierung des Osmanischen Reiches. Gleichzeitig suchte Gajnan Vaisov den Kontakt zu russischen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Die schon in den Schriften seines Vaters zentrale Idee einer „bulgarischen“ Identität der Vaisov-Anhänger spielte auch in dieser Zeit eine Rolle. Usamonva argumentiert, dass die Vaisov-Anhänger der ersten Generation mit diesem Begriff ihren Anspruch betont hätten, einem ursprünglichen, vermeintlich reinen Islam zu folgen. Etwa ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts sei der Begriff aber zunehmend ethnisch und politisch verstanden worden. Die zweite „Blütezeit“ der Gemeinde endete schließlich abermals mit der Verhaftung und Verurteilung ihres Anführers und einiger Gefährten im Jahre 1910. Als diese jedoch nach einigen Jahren aus der Haft entlassen wurden und in ihre unterschiedlichen Heimatregionen zurückkehrten, kam es erneut zu Konflikten mit der lokalen Verwaltung, auch wenn hier regionale soziale und ökonomische Konflikte das religiöse Moment überlagerten. Die Geschichte der Bewegung nach dem Untergang und des Zarenreiches und in der frühen Sowjetzeit skizziert Usmanova zwar knapp, sie ist aber nicht mehr Gegenstand ihrer Untersuchung.
Usmanova hat mit ihrer Studie eine umfassende und kenntnisreiche Darstellung der Vaisov-Bewegung im späten Zarenreich vorgelegt und eine Vielzahl von Originalquellen für den Leser kritisch aufbereitet. An manchen Stellen droht die Studie sich in der Rekonstruktion von Details zu verlieren, deren Bezug zur Argumentation der Autorin nicht immer klar sind. Einige interessante Überlegungen – z.B. zum Wandel des Konzepts der bulgarischen Identität – hätten noch genauer ausgeführt werden können. Insgesamt ist es Usmanova aber gelungen, einen sehr lesenswerten Beitrag zur Geschichte der Vaisov-Bewegung zu liefern.
Franziska Davies, München
Zitierweise: Franziska Davies über: Diljara M. Usmanova: Musul’manskoe „sektantstvo“ v Rossijskoj imperii. „Vaisovskij Božij polk staroverov-musul’man“. 1862‒1916 gg. [Islamisches „Sektierertum“ im Russländischen Reich. Das „Vaisov’sche göttliche Regiment der altgläubigen Muslime“, 1862‒1916.] Kazan’: Izdat. Fėn, 2009, 566 S., 38 Abb. ISBN/ISBN: 5-9690-0071-X, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Davies_Usmanova_Sektantstvo.html (Datum des Seitenbesuchs)
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