Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Roland Cvetkovski

 

Ralf Roth (Hrsg.): Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009. 270 S., Abb. = Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 9. ISBN: 978-3-515-09337-8.

Der Raum hat sich als historischer Untersuchungsgegenstand nach jahrzehntelanger Unsichtbarkeit mittlerweile wieder als produktive, die herkömmlichen Grenzziehungen hinter sich lassende Größe etabliert. Im vorliegendem Fall versuchen die neun Beiträge des von Ralf Roth herausgegebenen Sammelbandes, auf verschiedenen Ebenen nach der Gliederung eines europäischen Raumes zu fragen, der sich etwa um 1900 im Zuge der zunehmend beschleunigten Kommunikation durch transnationale urbane Verflechtungen konstituierte.

Als leitende These wird vorangestellt, dass die seit dem 18. Jahrhundert beobachtbare schnelle Abfolge von Mobilitäts- und Kommunikationsrevolutionen „die Entwicklung der einzelnen Länder in eine immer engere Beziehung und mit zunehmender Verdichtung der Kommunikation in einen immer schnelleren Takt“ (S. 7) gebracht habe. Das hierzu ausgebreitete städtische Panorama reicht von Lissabon, Paris, London über Hamburg, Berlin, Helsinki bis schließlich zu St. Petersburg, Czernowitz und Plovdiv; die inhaltlichen Zugänge und analytischen Einfassungen fallen jedoch erwartetermaßen unterschiedlich aus. Klassisch zu nennen sind die Beiträge zu Czernowitz in der Zwischenkriegszeit (I. Zhaloba, I. Piddubnyj), zu Lissabon im 19. und 20. Jahrhundert (M. Pinheiro) sowie zum Südbalkan (D. Parusheva) – hier wird für die jeweiligen Orte nachgezeichnet, dass sich durch die Anbindung an die modernen Verkehrs- und Kommunikationsnetze – Eisenbahn, Buslinien, Telegraphie, Luftverkehr – nicht nur ein betont übernationaler Verständigungshorizont ausbildete, sondern sich die kulturelle, soziale und wirtschaftliche Bedeutung der betroffenen Städte für die Region änderte. Den verkehrskommunikativen Aspekt mit seinen zahlreichen Implikationen wiederum rücken vor allem zwei Artikel in den Vordergrund: R. Roth weist auf die nicht zu überschätzende Bedeutung der Eisenbahnen hin, die überdies auch im urbanen Einzugsbereich ein stark verändertes Mobilitätsverhalten und damit eine soziale Umschichtung nach sich zogen. R. Liedtke verfolgt die Spuren der Briefkorrespondenz der Bankiersfamilie Rothschild mit ihren europaweit eingesetzten Agenten und zeigt, dass mit dem Aufkommen der Telegraphen und damit der Nachrichtenagenturen diese Agenten mit einem Mal obsolet wurden, die Arbeit der wenigen Verbleibenden jetzt nicht mehr aus reiner Informationsbeschaffung bestand, sondern spezifische Recherche und qualitative Auswertung zum Gegenstand hatte, um nun auf diesem Weg einen Informationsvorsprung zu erzielen. Die restlichen vier Aufsätze richten schließlich den Fokus größtenteils auf den urbanen Problemkomplex. A. Nevanlinna etwa verweist auf Möglichkeiten der öffentlichen Einflussnahme auf die Stadtplanung, wenn es darum geht, Bedeutungen von Orten innerhalb des städtischen Bereichs zu erhalten bzw. neu zu generieren. Das öffentlichen Veto der Pariser in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts gegen die Pläne zum Abriss der stillgelegten Markthallen Les Halles und für deren Umfunktionierung zu kulturellen Zentren war für die Folgezeit europaweit stilbildend für die Umcodierung von Bedeutungen urbaner Räume unter öffentlicher Beteiligung. Während K. Schlögel auf den intensiven Ideentransfer zwischen den beiden Metropolen Berlin und St. Petersburg im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts aufmerksam macht, zielen die Beiträge von D. Schubert und D. Schott auf die urbanen Wechselbeziehungen zwischen England und Deutschland. Schubert vergleicht dabei die Entwicklung der Häfen von London und Hamburg und arbeitet heraus, dass die bereits im 19. Jahrhundert getroffenen Entscheidungen, aus London einen Dockhafen, aus Hamburg jedoch einen Tidehafen zu machen, für das 20. Jahrhundert erhebliche und vor allem irreversible Auswirkungen in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht auf die Topographie der Hafengebiete hatte. Schott schließlich umreißt die Internationalisierung der Stadtplanung zwischen 1900 und 1914, mitunter beruhend auf der Vorreiterrolle Londons vor allem in der public health-Bewegung, was den Grundstein legte für ein erst nach dem 2. Weltkrieg deutlicher prononciertes bürgerliches Engagement bei der Mitgestaltung einer urbanen Lebenswelt.

Dass variable Raumkonzepte nationale Kartographierungen in den Hintergrund drängen, ist nahezu zum Gemeinplatz geworden. Der Sammelband verweist einmal mehr darauf, dass sich historische Bedeutung auch anders konfigurieren kann, wenn wirtschaftliche, soziale, kulturelle, aber auch geistige Verstrebungen in ihrer räumlichen Verfestigung ernst genommen werden. Was es aber nun hier mit der (Neu-)Gliederung Europas auf sich haben soll, bleibt gänzlich offen. Europa scheint hier höchstens als kontinentale Größe auf, als Idee ist Europa bei diesen Zugriffen unerheblich. Im Grunde genommen zeigt der Sammelband lediglich den Wandel, den die Kommunikationsrevolutionen für städtische Knotenpunkte nach sich gezogen haben. Zwar wird die Fluidität des europäischen Raumes deutlich gemacht; die Interaktion der jeweiligen urbanen Regionalisierungen als europäisch konstitutives Phänomen wird allerdings nicht erläutert. Daher verwundert es auch, dass die überseeischen Beziehungen ausgespart wurden, zumal internationale Häfen und auch der Luftverkehr in einzelnen Beiträgen Berücksichtigung fanden. Eine solche Kontrastierung hätte es nämlich ermöglicht, die transnationalen Verflechtungen dort zu verorten, woher sie methodisch auch stammen – in der Globalisierung.

Roland Cvetkovski, Köln

Zitierweise: Roland Cvetkovski über: Ralf Roth (Hrsg.) Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2009. Abb. = Beiträge zur Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung, 9. ISBN: 978-3-515-09337-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Cvetkovski_Roth_Staedte_im_europaeischen_Raum.html (Datum des Seitenbesuchs)

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