Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Roland Cvetkovski

 

Alexander von Humboldt: Briefe aus Russland 1829. Hrsg. von Eberhard Knobloch, Ingo Schwarz und Christian Suckow. Mit einem einleitenden Essay von Ottmar Ette. Berlin: Akademie Verlag, 2009. 330 S., 4 Abb., 2 Ktn. = Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 30. ISBN: 978-3-05-004596-2.

Auch wenn Humboldts Traum, die asiatischen Tropen mit eigenen Augen zu sehen, nicht wahr geworden ist, so bezeichnete er dennoch seinen 60. Geburtstag als „Wendepunkt“ (S. 184), gerade weil er ihn auf der asiatischen Seite des Urals erleben durfte. Wie wichtig er seine achtmonatige Reise durch das europäische Russland, Zentralasien und Westsibirien nahm, lässt sich schon an der unübersehbaren Verschränkung mit seiner berühmten Expedition durch die Urwälder Lateinamerikas zwischen 1799 und 1804 erkennen, in deren Zeit nämlich seiner eigenen Aussage zufolge der erste Wendepunkt seines Leben gefallen war, und zwar just an seinem 30. Geburtstag. Damals schon hatte seine Vision von der Erforschung der Tropen sowohl die westliche als auch die östliche Hemisphäre umschlossen. Selbst wenn nun das asia-amerikanische Projekt nicht in dem von ihm gewünschten Umfang umgesetzt werden konnte, so förderte er für das Zarenreich mit seiner Expedition 1829 erstaunliche Erkenntnisse etwa zur Naturkunde, Geologie, Botanik, Naturgeschichte, aber auch zur politischen Ökonomie zutage, die er stets mit den Ergebnissen aus seiner großen Lateinamerikaexpedition abglich. Insofern lässt sich Humboldts russische Reise sogar als Voraussetzung für die Abfassung seines opus magnum „Kosmos“ ansehen, denn die empirische Einbeziehung und vor allem Vernetzung seines in Südamerika zusammengetragenen Wissens mit den in Russland erhobenen Daten war wiederum die Grundbedingung seines Wissenschaftsverständnisses, das nicht nur im Ergebnis global ausgerichtet war. Wissen und Erkenntnis waren für ihn noch ganz im aufklärerischen Sinne buchstäblich an Bewegung geknüpft.

Der vorliegende, vorzüglich edierte Band mit der Humboldtschen Korrespondenz, die auch die Planungsphase der Reise durch Russland mit einschließt, gewährt einen hervorragenden Einblick nicht nur in die Vielseitigkeit der Tonlagen dieses Ausnahmewissenschaftlers, sondern gibt auch Auskunft darüber, wie die Wissenschaften, die Humboldt grundsätzlich im Plural betrieb, in diesem besonderen Kontext formuliert und konturiert wurden. Die Auflagen waren streng: fest vorgeplante Route, von der Humboldt jedoch zweimal eigenmächtig abwich, ständige offizielle Begleitung, der er sich nicht zu entwinden vermochte, und schließlich das Versprechen, das er dem Finanzminister Georg von Cancrin gegeben hatte, in seinen Beschreibungen sich „nur auf die todte Natur [zu] beschränken“ (S. 148), woran sich Humboldt auch strikt hielt – selbst in den privat-familiären Schreiben an seinen nicht minder berühmten Bruder Wilhelm, die gut ein Viertel der abgedruckten Korrespondenz ausmachen. Die restlichen der hier versammelten knapp 100 Briefe richteten sich überwiegend an den Organisator der Expedition Cancrin, dessen Briefe an Alexander wiederum, ganz im Gegensatz zu denen Wilhelm von Humboldts, mit in den Band aufgenommen wurden.

Naturkundliche Wissenschaftspraxis wird hier in nuce und zugleich im embryonalen Stadium vorgeführt. Natürlich ging es Humboldt zunächst um die empirische Erfassung der Welt, aber sein eigentliches Kunststück bestand im Zusammenfügen des Materials sowie in dessen Vermittlung an ein erwartbares Publikum. Humboldts bedeutendste Veröffentlichungen – etwa „Asie centrale“ oder der bereits erwähnte „Kosmos“ – entstanden alle erst nach seiner Russlandreise, und seine Korrespondenz verweist in vielem auf diese späterhin weltberühmten Publikationen. Die Briefform bot ihm ein erstes gedankliches und sprachliches Experimentierfeld, auf dem er seine Feldforschung gleichsam als Erlebenswissen artikulieren konnte. Dabei orientierte er sich nicht selten an der literarischen Tradition der Anekdote, er verlor jedoch nie den Blick für die Gesamtbedeutung der beobachteten Einzelphänomene, ob diese nun die Platinfunde im Ural betrafen mit der daraus resultierenden Diskussion mit Cancrin über eine mögliche Einführung einer entsprechenden Münzwährung, oder die Begegnung mit Kaufleuten und Offizieren in Astrachan’, deren Buntheit zwar seinen „Geist um so viele neue Ideen bereichert“ hat, wobei er aber trotzdem unbedingt so viel wie möglich von den dortigen „Produkten“ (beide S. 196) zusammentragen wollte, um eine angemessene bleibende Repräsentation der Region zu erhalten. Die angehängte Rede vor der Petersburger Akademie Ende November 1829 unterstrich nochmals das pragmatische und zugleich komplexive Wissensverständnis Humboldts – nicht die bloße Zusammenfassung seiner Reise präsentierte er den russischen Gelehrten, sondern seine wissenschaftlichen Visionen, deren weltumspannendes Ausgreifen er geschickt an die reichen Erkenntnismöglichkeiten der Weiten Russland geknüpft hatte: Neue Erkenntnisse zum Erdmagnetismus, zu atmosphärischen Schwankungen und zur physikalischen Geographie, so sein vorgestellter Dreischritt, seien die unumstößlichen „Vorzüge […], die die Naturgeschichte der Erde aus der Lage und der Weite dieses Reiches ziehen kann“ (S. 285). Er hatte es offenbar verstanden, die problematische Größe Russlands mit leichter Hand zu einem durch und durch globalen Vorteil umzugestalten.

Roland Cvetkovski, Köln

Zitierweise: Roland Cvetkovski über: Alexander von Humboldt: Briefe aus Russland 1829. Hrsg. von Eberhard Knobloch, Ingo Schwarz und Christian Suckow. Mit einem einleitenden Essay von Ottmar Ette. Berlin: Akademie Verlag, 2009. 330 S., 4 Abb., 2 Ktn. = Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, 30. ISBN: 978-3-05-004596-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Cvetkovski_Knobloch_Alexander_von_Humboldt_Briefe.html (Datum des Seitenbesuchs)

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