Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Roland Cvetskovski

 

Vladlen S. Izmozik / Natalija B. Lebina: Peterburg sovetskij. „Novyj čelovek“ v starom prostranstve. 1920–1930-e gody (Social’no-architekturnoe mikroistoričeskoe issledovanie). [Das sowjetische Petersburg. Der „neue Mensch“ im alten Raum, 1920er – 1930er Jahre. (Eine sozial- und architekturgeschichtliche Mikrostudie]. Sankt-Peterburg: Kriga, 2010. 247 S., Abb. ISBN: 978-5-901805-46-6.

Das Leben als Ganzes vom Kopf auf die Füße zu stellen und dessen Wahrhaftigkeit an ein richtiges politisches Bewusstsein zu knüpfen, das war das erklärte Ziel der Bolševiki. Die Ausgabe sowjetischer Werte und die Vorgabe von Richtlinien für das gesellschaftliche Zusammenleben sollte, so lautete zumindest die einfache Rechnung, dieses neue Leben einsetzen und ihm zu seinem historischen Recht verhelfen. Die Katastrophe, die daraus erwuchs, ist jedem bekannt. Das vorliegende Buch versucht diesen Prozess, der sich mit der Ein- und Durchsetzung dieses Neuen verband, einzufangen, indem die beiden Autoren eine doppelte Perspektive darauf werfen: Zum einen konzentrieren sie sich auf konkrete Örter und Architekturen in Petersburg, deren Wandel im politischen Selbstverständnis diese Umwertung im Großen offenlegen soll, und zum anderen verschreiben sie sich der mikrohistorischen Methode, die den so genannten „neuen Menschen“ in seinen Handlungen und Handlungsmöglichkeiten im Kleinen sichtbar macht. Die geradezu haptische Nähe zu den unterschiedlichen Dokumenten und die Auseinandersetzung mit Denkmälern, Plätzen, Räumen und Menschen als explizitem Quellenmaterial zeigt die Absicht der Autoren an, neuere Ansätze der Raum- und Sozialgeschichte miteinander zu verbinden. Was dabei entsteht, ist ein Panorama an historischen Einstellungen und Narrativen des Machtwillens, der Gewalt, der Ohnmacht und der Zerstörung.

Sie haben dazu sechs Raumensembles gewählt: Die Alexandersäule auf dem Schlossplatz vor dem Winterpalais, das Aleksandr-Nevskij-Kloster am Ende des Nevskij Prospekts, das Marsfeld an der Neva, den Heumarkt im Herzen der Stadt, das Hotel Astoria in der Nähe der Isaaks­kathe­drale und schließlich den Gebäudekomplex 2628 im Kamen­noostrovskij Prospekt auf der Petro­gradskaja storona. Die Geschichten, die nun um diese Örter erzählt werden, weisen aber eine ebensolche Zweigeteiltheit auf, wie die Perspektiven, welche die Autoren eigentlich als einheitliches Programm vorangestellt hatten. Die Erzählungen zu den ersten fünf Schauplätzen beschreiben im Grunde genommen die Umkodierung und damit die versuchte Sowjetisierung der öffentlichen Räume, wie dies auch schon etwa Vladimir Papernyj oder Boris Kolonickij in ihren Untersuchungen vorgemacht haben. Man erfährt etwa die Umstände der sich über Jahre hinziehenden Kämpfe um die Absicht, den Bronzeengel der Alexandersäule durch eine Lenin­skulptur zu ersetzen, die allerdings Mitte der 1920er Jahre allein schon wegen der technischen Unrealisierbarkeit nun endgültig abflauten. Erfolgreicher waren die Bemühungen der Bolševiki beim Aleksandr-Nevskij-Kloster: Nachdem dieses 1926 endgültig geschlossen worden war, beherbergte das Gebäude nun unterschiedliche profane Einrichtungen – eine Fahrschule, eine Stuhlfabrik oder auch das Bezirksgericht –, die das orthodoxe zarische Erbe, das sich mit dem von Peter gegründeten Kloster verband, sorgsam zu überdecken suchten. Der Umgang der Sowjets mit sozialen Missständen wie etwa Prostitution und Obdachlosigkeit, der Wohnungsnot und schließlich der Erfindung der Kommunalwohnung wird auf der Folie dieser einzelnen Schauplätze vorgeführt, und es wird ersichtlich, dass durch die Einsetzung gleichsam neuer Rituale der symbolische Übergriff – vom angeblichen zarischen moralischen Morast zur sowjetischen Sozialdisziplinierung auf dem Heumarkt, vom imperialen Glanz zur Parteibonzenwohnstätte im Astoria, von der Lustwiese und dem militärischen Paradeplatz zum feierlichen Gedenkort der Revolution – nicht nur notwendig für die Selbstrechtfertigung der  Bolševiki war, sondern sich überdies in der konkreten Verwendung und Umfunktionalisierung vorhandener Räume sichtbar materialisieren und daher als politischer Erfolg verbuchen lassen konnte.

Der letzte Schauplatz allerdings, die Wohnanlage im Kamennoostrovskij Prospekt, dient den Autoren lediglich als feste räumliche Bezugsgröße, um ihren eingangs angekündigten mikrohistorischen Ansatz zur Anwendung zu bringen. Dieser Abschnitt, der mehr als ein Drittel des Bandes ausmacht, ist zweifellos sein End- und Höhepunkt. Dieses von beiden Autoren gemeinsam verfasste Kapitel verfolgt die Spuren einzelner Bewohner dieses Hauses in einer Mischung aus kleinteilig-wissenschaftlichem Spürsinn und erzählerischem Geschick, und gerade dieser Gebäudekomplex, in dem wohlgemerkt sowohl Grigorij E. Zinov’ev als auch Sergej M. Kirov ihre Wohnstatt genommen hatten, erweist sich als ein beeindruckendes Vergrößerungsglas, das die politischen Repressionen und den Terror in seiner Wahllosigkeit und Zielstrebigkeit sowie das Leid und die moralische Zersetzung der Opfer überdeutlich vor Augen führen. Izmozik und Lebina haben akribisch Quellenmaterial über die einzelnen Bewohner – es werden 15 vorgestellt – zusammengetragen und deren tragisches Schicksal, das die meisten in den 1930er Jahren in diesem Haus ereilt hat, nacherzählt. Finnische Kommunisten, hohe sowjetische Parteifunktionäre, Dienstboten oder Ingenieure – ihnen allen war vor allem gemeinsam, dass sie früher oder später als angebliche Spione oder Terroristen den Säuberungswellen zum Opfer gefallen waren. Es ist sicherlich keine neue Erkenntnis, dass die Verurteilungen und Erschießungen zur Zeit des Terrors keinem Muster folgten, doch bemerkenswert ist die Eindringlichkeit, mit der die Autoren die einzelnen Schicksale für sich sprechen lassen, die durch diesen geradezu symbolhaften Ort in besonderer Weise miteinander verbunden waren. Es ist daher in gewisser Weise verständlich, dass sowohl die Disparatheit der einzelnen Lebensläufe als auch die Verschiedenheit der einzelnen Reaktionen und der daraus resultierenden Handlungsverläufe, sofern diese aus den Verhörprotokollen oder anderweitigen Selbstzeugnissen Familienangehöriger zu rekonstruieren waren, die Autoren dazu verleiten, den in der westlichen Forschung eher diskreditierten Begriff des Totalitarismus wieder zu bemühen. Offenbar soll dadurch der auf unterschiedlichen Ebenen ablaufenden Willkür des Umwertens, Einschwörens, Aussortierens und letztlich des Ausmerzens eine Eindeutigkeit verliehen werden, die die Allgegenwart der Unterdrückung und der Gewalt als historischen Prozess begrifflich zugänglich macht.

Der alte Vorwurf an die Mikrogeschichte, sie verliere die großen Zusammenhänge aus den Augen, war schon vor Jahrzehnten zweifelhaft; auch im vorliegenden Fall würde er das Ziel verfehlen, denn der Band stellt aufs Neue unter Beweis, dass dem Kleinsten auf sehr spezifische Weise stets das Übergeordnete eingegeben ist. Die Fragmentarisierung des Narrativs, die wir hier vorfinden, ist dabei der gewöhnliche formale Widerhall historischer Kontingenz, die sich ferner aus der angewandten Methode ergibt. Der Band zeigt dadurch aber auch, dass der neue sowjetische Mensch geradezu im postmodernen Sinne weniger ein Subjekt denn ein Projekt gewesen war, das nicht selten bereits im Anspruch steckenblieb. Andererseits war es den  Bolševiki schon recht früh gelungen, neue Zusammenhänge zu schaffen und die russische Gesellschaft tatsächlich neu auszurichten, und eigentlich zeigten sie sich gerade hierin als die treuesten Ausleger von Marx, dem zufolge ja das Außen notwendig auf das Innen wirkte. Die architektonisch-räumlichen Beispiele, die der Band anführt, unterstreichen dies, obwohl dabei zuweilen die einzelnen Erzählungen durch die frühe sowjetische Geschichte mäandern, ohne einen sichtlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ort aufzuweisen, etwa im ersten Abschnitt zur Alexandersäule, als die Einstellungen plötzlich zum Konsum oder zur Taufe überwechseln. Doch ändert das nichts an der Tatsache, dass Izmozik und Lebina versuchen, Räume in ihrer Geschichte buchstäblich zu durchmessen. Insofern verweist der Bandtitel aber auf ein grundlegendes, ja fast schon fatales Missverständnis – in der Perspektive der Partei, in derjenigen des gewöhnlichen Sowjetbürgers, aber auch vor allem aus der Sicht des Historikers konnte und kann es unmöglich um den „neuen Menschen“ im alten Raum gehen, sondern nur umgekehrt: um die Menschen im neuen Raum.

Roland Cvetkovski, Köln

Zitierweise: Roland Cvetskovski über: Vladlen S. Izmozik / Natalija B. Lebina: Peterburg sovetskij. „Novyj čelovek“ v starom prostranstve. 1920–1930-e gody (Social’no-architekturnoe mikroistoričeskoe issledovanie). [Das sowjetische Petersburg. Der „neue Mensch“ im alten Raum, 1920er – 1930er Jahre. (Eine sozial- und architekturgeschichtliche Mikrostudie]. Sankt-Peterburg: Kriga, 2010. 247 S., Abb. ISBN: 978-5-901805-46-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Cvetkovski_Izmozik_Peterburg_sovetskij.html (Datum des Seitenbesuchs)

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