Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Bernhard Chiari
Igor’ G. Ermolov: Tri goda bez Stalina. Okkupacija: sovetskie graždane meždu nacistami i bol’ševikami. 1941–1944. [Drei Jahre ohne Stalin. Okkupation: Sowjetbürger zwischen Nazis und Bol’ševiki, 1941–1944.] Moskva: Centrpoligraf, 2010. 383 S., Tab. = Na linii fronta. Pravda o vojne. ISBN: 978-5-9524-4886-5.
Im Zweiten Weltkrieg dienten bis zu anderthalb Millionen Sowjetbürger dem Deutschen Reich in bewaffneten Formationen. Während nach 1945 Historiker in West und Ost schon frühzeitig diese Form von Kollaboration beschrieben, wird die alltägliche Zusammenarbeit mit den Besatzern, von der eine ungleich größere Anzahl von Menschen betroffen war, in Russland bis heute vielfach ausgeblendet. Lange galt die Vorstellung, ‚normale‘ Menschen hätten sich aus freien Stücken mit Adolf Hitler und der Wehrmacht eingelassen, als westliche Propaganda. Dass drei Jahre ohne Stalin nicht nur aus Widerstand oder dem Warten auf die (im Herbst 1941 nicht absehbare) Befreiung durch die Rote Armee bestanden, scheint vielen auch fast 70 Jahre nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus ebenso schmerzlich wie unvereinbar mit dem russischen Nationalbewusstsein.
Igor’ Ermolov widmet sich der zivilen Zusammenarbeit (graždanskij kollaboracionizm) auf dem Gebiet der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Deren besetzte Teile verblieben während des Krieges unter Kontrolle der Wehrmacht, während Weißrussland und die Ukraine größtenteils als „Reichskommissariate“ zivil verwaltet wurden. Anhand von Quellen aus ehemals sowjetischen Archiven, Memoiren und russischsprachiger wissenschaftlicher Literatur zeigt Ermolov in fünf Kapiteln das Leben unter deutscher Herrschaft. Der erste Abschnitt skizziert mit Kriegsverlauf und nationalsozialistischer „Ostpolitik“ die Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit mit den Besatzern und gibt Aufschluss über die Vielfalt individueller Motivationen. Diese reichten von Rache für erlittenes Unrecht – gut veranschaulicht etwa am Beispiel antisowjetischer Gedichte, in denen Motive aus der Zeit des Bürgerkrieges und der Stalinzeit wieder auflebten – über die Reaktion auf Ausschreitungen sowjetischer Partisanen bis hin zum Auftreten von „Pseudopartisanen“ (lžepartizany) und Verbrecherbanden, die auf dem Land Angst und Schrecken verbreiteten. Der zweite Abschnitt behandelt die einheimische Selbstverwaltung als Ort, an dem sich Zusammenarbeit maßgeblich manifestierte. Nach den sowjetischen Evakuierungen fehlten 1941 überall qualifizierte Arbeitskräfte. Dennoch hielten Einheimische in den Stadt- und Rajonverwaltungen, als Lehrer an den Schulen, als Richter und Anwälte oder im Gesundheitswesen das öffentliche Leben aufrecht und stellten eine Basisversorgung der Bevölkerung sicher. Ermolov macht deutlich, unter welch schwierigen Bedingungen kulturelle und soziale Einrichtungen weiter funktionierten, und zeigt ebenso die Bandbreite von Zusammenarbeit auf: Während manche Ärzte in leeren und zerstörten Krankenhäusern unter erbärmlichen Bedingungen versuchten, die Not ihrer Patienten zu lindern, halfen andere bei der „Räumung“ psychiatrischer Kliniken, indem sie Geisteskranke verhungern ließen oder im deutschen Auftrag töteten. Das dritte Kapitel belegt, dass sich selbst im Vernichtungskrieg wirtschaftliche Aktivitäten vollziehen oder sogar neu entwickeln konnten. Fuhrunternehmen transportierten große Mengen Güter für die Wehrmacht. Wo die Besatzer private Geschäfte zuließen, schossen kleine Läden aus dem Boden. Trotz ihres ärmlichen Angebotes und explodierender Preise bedeuteten die Märkte insbesondere für die Stadtbewohner die einzige Möglichkeit, an Lebensmittel zu kommen, weswegen sie auch entsprechend frequentiert waren. Manche Industriebetriebe hatten Invasion und Evakuierung durch die Rote Armee überstanden. Sie produzierten im Auftrag der Wehrmacht weiter und boten ihren Arbeitern neben Lebensmitteln, Wohnraum und medizinischer Versorgung durchaus attraktive finanzielle Anreize. Wenn Partisanen Infrastruktur und Transportwege zerstörten, traf dies nicht nur die Besatzer, sondern beraubte auch die Einheimischen ihrer Verdienstmöglichkeiten. Manche der betroffenen Arbeiter wechselten zur Polizei oder unterstützten örtliche Milizen und wurden so Teil des ausufernden Partisanenkrieges, der ab 1942 immer größere Gebiete überzog und den Kampf hinter der Front in die Dörfer trug.
Als Sonderfälle deutscher Besatzungspolitik stellt Ermolov, viertens, Gebiete wie die sogenannte „Lokotskaja Respublika“ vor, wo die Besatzungsmacht in den Oblasten Orlov und Kursk ein weitgehend autonomes Gemeinwesen zuließ. Der Autor weist nach, dass in der „Lokotskaja Respublika“ nicht nur „degenerierte Verbrecher“, sondern selbst Mitglieder der KPdSU oder des Komsomol in der Verwaltung mitarbeiteten und wirtschaftliche Ziele verfolgten. Das deutsche Propagandakonstrukt der „Neuen Ordnung“ schien auch dort Wirklichkeit zu werden, wo in Abweichung von der Generallinie nationalsozialistischer Ostpolitik beispielsweise die Kosaken zu Bündnispartnern im Kampf gegen den Kommunismus erhoben wurden.
Wie weit die nationalsozialistische Propaganda und die Realität von Ausbeutung und Terror in der besetzten UdSSR im Allgemeinen auseinanderklafften, illustriert das abschließende fünfte Kapitel. Plakate und Flugblätter erreichten die Empfänger nicht, wenn die einzige Botschaft der Sieger darin bestand, den „Untermenschen“ in nahezu unverständlichem Russisch Wodka und Nahrung in Aussicht zu stellen. Den in der RSFSR zugelassenen, überwiegend mit Exilanten besetzten faschistischen Gruppierungen und Jugendorganisationen fehlte auch später größerer Zulauf. Die pathetischen deutschen Versprechungen standen in krassem Gegensatz zur materiellen Ausplünderung und zur Jagd auf Zwangsarbeiter und waren Ausdruck des letztlich unauflöslichen deutschen Dilemmas, im Kampf gegen den Bolschewismus auf Menschen angewiesen zu sein, die nach den Grundsätzen der Rassenideologie niemals Partner sein konnten. Trotzdem bedeutete Besatzung nicht nur Stillstand und Zerstörung, sondern schien 1941 nach der Erfahrung des Stalinschen Terrors zunächst die Möglichkeit für individuelles Fortkommen und sogar die Chance auf mehr Freiheit zu eröffnen.
Ermolovs Buch ist besonders verdienstvoll, weil es die schrittweise Zerstörung der Kriegsgesellschaft ins Bewusstsein ruft und so letztlich auch jenen Opfern der deutschen Aggression Gerechtigkeit widerfahren lässt, die versuchten, unter den Bedingungen der Besatzung zu überleben. Die erfolgreiche, populärwissenschaftlich aufgemachte Reihe „Na linii fronta. Pravda o vojne“ (An der Frontlinie. Die Wahrheit über den Krieg) soll breitere russische Leserschichten erreichen. Diesen bleiben freilich auch in diesem Buch jüngere, im Westen geführte Diskussionen über Besatzungsherrschaft und deren regionale Ausprägungen, die mittlerweile kleine Bibliotheken füllen, vorenthalten. Sowjetischen Mustern verfällt Ermolov, wenn der lokale Antisemitismus zwar als Gedichtmotiv aufscheint, die Vernichtung der Juden in der besetzten UdSSR oder gar eine Beteiligung ihrer nichtjüdischen Nachbarn aber keine Erwähnung finden. Nationale und ethnische Spannungen als Triebkraft für das System der Besatzungsherrschaft werden gar nicht erst angesprochen.
Bernhard Chiari, Potsdam
Zitierweise: Bernhard Chiari über: Igor’ G. Ermolov: Tri goda bez Stalina. Okkupacija: sovetskie graždane meždu nacistami i bol’ševikami. 1941–1944. [Drei Jahre ohne Stalin. Okkupation: Sowjetbürger zwischen Nazis und Bol’ševiki, 1941–1944.] Moskva: Centrpoligraf, 2010. 383 S., Tab. = Na linii fronta. Pravda o vojne. ISBN: 978-5-9524-4886-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Chiari_Ermolov_Tri_goda_bez_Stalina.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2013 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Bernhard Chiari. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@ios-regensburg.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.