Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Jana Bürgers
Das politische Lied in Ost- und Südosteuropa. Hrsg. von Stefan Michael Newerkla, Fedor B. Poljakov und Oliver Jens Schmitt. Wien, Berlin, Münster: Lit, 2011. 308 S., Abb. = Europa Orientalis, 11. ISBN: 978-3-643-50255-1.
Was ist das politische Lied in Ost- und Südosteuropa? Versuchte man, eine Antwort aus den 15 Aufsätzen des vorliegenden Sammelbandes zu gewinnen, so fiele diese sehr wirr aus. Das Spektrum des vorgestellten Liedguts reicht nämlich von der Hymne bis zum Punk, vom Kirchenlied zum multimedialen Videoclip. Ähnlich weit erstreckt sich die räumliche und zeitliche Spanne der Beiträge. Außer der gemeinsamen Überschrift des Sammelbandes und der Ringvorlesung am Wiener Osteuropaforum als Veranstaltungsrahmen eint die Texte wenig. Die meisten sind für sich genommen sehr aufschlussreich und gewähren einen bislang eher unbekannten Blick auf vermeintlich bekannte Länder. Was fehlt, ist die große Klammer, die in einer etwas engeren Themenstellung oder wenigstens einem zusammenfassenden Vor- oder Nachwort der Herausgeber hätte bestehen können.
Der erste Beitrag zur Genese der russischen Hymne ist zwar ein wunderbarer Abriss der Geschichte mit hervorragender Ausarbeitung der Unterschiede und Kontinuitäten, handelt aber gerade nicht von dem, was der Autor Andreas Guski selbst als politisches Lied definiert.
Obgleich der Aufsatz von Ioannis Zelepos ‚nur‘ politische Lieder im Griechenland des 20. Jahrhunderts behandeln will, krankt auch er am Manko des ganzen Bandes: einer überwältigenden Fülle von Fallbeispielen, durch deren schiere Menge und breite Streuung Überblick und Struktur verloren gehen und Schlussfolgerungen zu Allgemeinplätzen verkommen. Ein wirklich spannendes Detail wie die Korrelation von Politikerbedeutung und Schallplattenproduktion muss dagegen leider ein Schattendasein in den Fußnoten fristen (S. 32, Anm. 7).
Eine Idee davon, warum die Lieder mehr als klanglich illustrierendes Beiwerk von Politik sein können, gewinnt man dagegen durch die Lektüre von Oliver Jens Schmitts Darstellung. Ausführlich, aber klar und nachvollziehbar schildert er die Rolle des Singens und der Lieder für die in den Dreißigerjahren aktive rumänische Massenbewegung „Legion Erzengel Michael“. Die Lieder seien „nicht nur Mittel, sondern Essenz der politischen Mobilisierung“ gewesen (S. 89): Sie verbreiteten Inhalte, weckten Emotionen und drückten ihrerseits die „seelische Verfassung“ (S. 92) der Sänger aus. Es wird deutlich, wie Lieder „zum Bindeglied zwischen Politik und Gesellschaft werden“ (S. 88).
So durchwachsen nimmt sich der gesamte Band aus: eher zufällige Bemerkungen, garniert mit an sich profunden theoretischen Gedanken (z. B. über das sowjetische Massenlied) wechseln sich ab mit ausführlichen Liedtextanalysen oder detaillierten Gruppenporträts (z.B. über das tschechisch-slowakische Spiritual kvintet). Staatlich propagierte Massenlieder, von einer eigens dafür gegründeten Konzertagentur auf die Bühne gebracht und in publikumswirksame Revuen verpackt, behandelt David Tompkins für das Polen der Fünfzigerjahre. Er bescheinigt dem Versuch, die Arbeitermassen damit gleichermaßen anzuziehen, zu unterhalten und politisch zu bilden, nur kurzfristigen Erfolg: die Programme waren qualitativ zu minderwertig und bald zu starker westlicher Konkurrenz – dem sich verbreitenden Jazz nämlich – ausgesetzt.
Politisch-künstlerischer Punk in bewusster Auseinandersetzung mit dem System in Ungarn: das hätte spannend werden können, bleibt aber leider auf die Selbstaussagekraft der – in der Tat teilweise deftigen – Texte begrenzt und verzichtet ganz auf jede Art von theoretischer Einordnung.
Ganz anders und richtig gut dagegen die „Formen des ukrainischen politischen Liedes im 20. Jahrhundert“. Sehr informativ und sinnvoll mit theoretischen Grundlagen verknüpft geben Roman Dubasevych und Stefan Simonek einen gelungenen Überblick. Besonders hervorzuheben ist der Übergang von sowjetischer zu postsowjetischer und aktuellster Zeit mit all den Brüchen, neuen Möglichkeiten, aber eben auch Kontinuitäten. Die zahlreichen Internetlinks auf Originaldokumente (Texte, Bilder, Videos) ergänzen und erweitern sinnvoll.
Eine Art von Schwerpunktsetzung ergibt sich für die letzten Artikel, die alle die Länder des ehemaligen Jugoslawien behandeln. Trotz ihres unmittelbaren Gegenwartsbezugs spielt die Vergangenheit, oder besser: die Sicht auf die Geschichte und ihre Instrumentalisierung, eine große Rolle. Die Personifizierung national-patriotischer moderner Musik mit ungeheurer Breitenwirkung (positiv im eigenen Land, ablehnend bis zum Einreiseverbot im Ausland) stellt Marko Perković alias Thompson dar. Selbst so benannt nach seiner Maschinenpistole im Kroatienkrieg 1991–95, verbindet der „volkstümliche Rocksänger“ (S. 216) in seinen Liedern und Videos Nationalismus, Militarismus und Kriegsverherrlichung mit Katholizismus und Faschismus, was ihm begeisterte Fans unter kroatischen Politikern, Gelehrten und Klerikern ebenso beschert wie entsetzte Gegner (darunter z. B. Wolfgang Schäuble). Alojz Ivanisević zeichnet ein ausführliches Porträt des Musikers, wobei er mit klarer Stellungnahme und Kritik, die gegen Ende des Aufsatzes fast zu harsch wird, nicht spart.
Einen wesentlich breiteren Bogen spannt Vladimir Biti, wenn er „Das politische Lied in Kroatien“ behandelt, bzw. behandeln möchte. Denn die Überschrift verspricht insgesamt zu viel. Zwar beeindruckt der Autor mit einer Vielfalt von Beispielen, er lässt aber zu oft die Texte für sich sprechen und spart zu sehr mit eigener Analyse und Interpretation, was bei einer Bandbreite, die vom Volkslied über Fußballgesänge (womit auch eine Verbindung zu Thompson hergestellt ist) bis zum Hip Hop reicht, hilfreich gewesen wäre.
Durch Region, Themenstellung und Art der Bearbeitung fällt der Beitrag über die Kärntner Slowenen leider etwas aus dem jugoslawischen Rahmen, in den die beiden letzten Aufsätze des Sammelbandes über den serbischen „Turbofolk“ und Kriegslieder im Kosovokonflikt wieder besser passen.
Versucht man nun aus der Fülle des Materials eine Art von Definition des politischen Liedes zu extrahieren, so fallen doch einige immer wiederkehrende Charakteristika auf. Die wichtigste Rolle spielen Lieder in Kriegen, Konflikten und Stresssituationen. Dann verbreiten sie „explizit politische Botschaften zum Zweck der Mobilisierung von Anhängern“ (S. 29) und sind ein „hoch entwickeltes Instrumentarium der Massenbeeinflussung“ (S. 113). Durch die Verbindung von Emotionalem und Ideologischem (S. 113) gelingt es ihnen, üblicherweise unberührte Saiten bei Sängern und Zuhörern anzuschlagen. Ohne diesen Kontext bleiben sie eher Spiegel oder Begleiter gesellschaftlicher Zustände (Rap über Drogen), werden nicht zum Initiator politischer Aktionen.
Zu unterscheiden ist jedoch, ob die Lieder als Hymnen oder Massenlieder von oben lanciert werden oder aus Widerstandskreisen, aus dem Volk, von unten kommen. Erhellend wäre sicher gewesen, genauer herauszuarbeiten, welche politische Richtung sich welcher Art von Liedern bedient. Gibt es bspw. eine Vereinnahmung des Volkslieds durch rechte und nationalistische Gruppierungen, während Partisanenlieder den Linken gehören?
Eine Möglichkeit der Annäherung wurde praktisch von allen Autoren außer Acht gelassen: ein genaueres Hören auf die Melodien und musikalischen Ausdrucksformen. So können wir zwar viele Textpassagen lesen (mal nur deutsch, mal im Original mit Übersetzung), aber nicht eine Note. Gehört zum Lied nicht auch die Musik?
Wenn man seine Erwartungen hinsichtlich einer Antwort auf die Ausgangsfrage, was denn nun das politische Lied in Südosteuropa sei, dahingehend modifiziert, mehrere Antworten zu akzeptieren und sich vielmehr auf die Fülle einlässt, dann birgt der Band faszinierende Einsichten, ungewohnte Blickweisen und vielfältige Hörerlebnisse (youtube sei Dank). Ich hätte mir etwas mehr zusammenfassende und bündelnde Arbeit von Seiten der Herausgeber gewünscht, bin aber von Seh- und Höreindrücken ungeahnter Bandbreite stark bereichert.
Jana Bürgers, Offenburg
Zitierweise: Jana Bürgers über: Das politische Lied in Ost- und Südosteuropa. Hrsg. von Stefan Michael Newerkla, Fedor B. Poljakov und Oliver Jens Schmitt. Wien, Berlin, Münster: Lit, 2011. 308 S., Abb. = Europa Orientalis, 11. ISBN: 978-3-643-50255-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Buergers_Das_politische_Lied_in_Ost_und_Suedosteuropa.html (Datum des Seitenbesuchs)
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