Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Karsten Brüggemann
Ene Kõresaar (Hrsg.): Soldiers of Memory: World War II and Its Aftermath in Estonian Post-Soviet Life Stories. Amsterdam [etc.]: Rodopi, 2011. 441 S. ISBN: 978-90-420-3243-9.
Inhaltsverzeichnis:
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Die Welle von Publikationen zu den umfangreichen Sammlungen von Erinnerungen aus Estland hält an (siehe die Rezension des Autors in jgo.e-revies 2011, 4). Die vorliegende Zusammenstellung ist nun den Erinnerungen an den Krieg gewidmet, einer auch geschichtspolitisch umstrittenen Zeit. Sie besteht aus einem Quellen- und einem Interpretationsteil, in dem acht Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen (Soziologie, Literatur- und Geschichtswissenschaft, Ethnologie) die acht (gekürzten) Erlebnisberichte analysieren. Thematisch konzentrieren sich die Erinnerungen auf die Verwicklung von estnischen Männern der Jahrgänge 1914 bis 1926 in das Kriegsgeschehen und ihr Überleben in den diversen militärischen Formationen. Einige haben deutsche, andere sowjetische Uniformen getragen, manche beide; drei haben bereits in der estnischen Armee vor dem Krieg gedient, einer floh nach Finnland, um in der finnischen Armee gegen die Sowjets zu kämpfen, zwei durchlaufen den GULag. Es sind Geschichten von Deserteuren und Überläufern, von einfachen Soldaten und Offizieren, von Häftlingen und – in Ausnahmefällen – von Familienvätern. Es geht in erster Linie um diverse persönliche Überlebensstrategien, wobei es vielleicht typisch für von Männern verfasste Texte ist, private Bindungen doch meist in den Hintergrund zu stellen (siehe Terje Anepaios Aufsatz zur Geschichte von Heinrich Uustalu, S. 385-408).
Damit ist bereits eines der Ziele dieser dankenswerterweise auf Englisch vorgelegten Publikation angesprochen: Die Rehabilitierung des komplexen Bildes der Kriegsjahre, das sich einer vorschnellen Schwarz-Weiß-Einteilung entzieht. Dazu zählt es vor allen, die unwillkürliche Ethnisierung der Kriegserfahrung sowohl in estnischen als auch in ausländischen Medien zu hinterfragen, derzufolge die Rote Armee „russisch“ war und Esten vor allem in deutschen Wehrmachts- bzw. Waffen-SS-Einheiten kämpften. Angesichts dieser „großen Erzählungen“ ist die wesentliche Erfahrung, welche alle hier versammelten Lebensgeschichten prägt, ein jeweils sehr individuelles Gefühl des Ausgeliefertseins, das in einigen der Beiträge als „zwischen die Zahnräder“ der Geschichte geraten zu sein beschrieben wird. Während der heutige Mediendiskurs eher davon geprägt ist, Uniformen als eindeutige Markierung der politischen Überzeugung anzusehen – die Esten waren „Faschisten“ – stellen diese Ego-Dokumente derartige Schematisierungen in Frage. Wenn etwas als typisch für alle diese Biografien gelten kann, ist es der Impetus, einem wie auch immer individuell verstandenen „Estland“ dienen zu wollen. Ob nun die Vorkriegserziehung im seit 1934 autoritär regierten Nationalstaat oder der neue politische Kontext der 1990er Jahre dafür verantwortlich zu machen ist, mag von Fall zu Fall zu entscheiden sein.
Tatsächlich sollten sich diejenigen estnischen Politiker, die bis Anfang 2012 planten, den Esten, die in deutschen Uniformen gekämpft haben, offiziell den Status von „Vaterlandsverteidigern“ zuzusprechen, die Erinnerungen von Reinhold Mirk zu Gemüte führen. Mirk war 1941 aus Estland evakuiert, dann in ein Strafbataillon geschickt worden und diente seit 1942 in den Reihen des Estnischen Schützenkorps der Roten Armee. Er schrieb, „the claim of some very naïve Estonians that we – the soldiers of the Corps – are occupiers is very insulting. We came, arms in hand, to drive out the German occupiers and we did it in all sincerity.“ (S. 115) Damit ist die Einseitigkeit der heutigen Geschichtspolitik des Landes auf den Punkt gebracht, die, vergleichbar entsprechenden sowjetischen Praktiken, die Esten aufgrund der Uniform in Gute und Böse einteilen.
Wie ahistorisch eine derartige Sichtweise ist, illustriert nicht zuletzt auch das Umschlagbild des anzuzeigenden Bandes, auf dem zwei estnische Rekruten, Nachbarsjungen aus Nord-Estland, gemeinsam posieren – einer in einer sowjetischen, der andere in einer Waffen-SS-Uniform. Das Foto zeigt den kurzen Moment im Herbst 1944, als die Kriegshandlungen in Estland eingestellt worden waren, und die Freunde sich wiedersahen; ein kurzer Augenblick des Friedens, bevor sich die radikal unterschiedlichen Wege, die beide eingeschlagen hatten, auf ihr weiteres Schicksal auswirkten: Während der eine nach Informationen der Herausgeberin später einen Kolchos leitete, wurde der andere 1949 verhaftet und 1956 aus einem Gefangenenlager in Kasachstan freigelassen (S. 14). In den Lebensläufen der beiden Jungs hing vermutlich wenig von individuellen Entscheidungen ab, und es brauchte viel Glück, um zu überleben.
Dass „Vergessen“ ein untrennbarer Bestandteil des Erinnerns ist, fördern Aigi Rahi-Tamm und Terje Anepaio in ihren interpretierenden Essays aufgrund von Archivrecherchen zutage: In den Lebensberichten ‚ihrer‘ Autoren wurde deren Dienst auf der deutschen Seite unterschlagen. Dies war im Kontext des sowjetischen Alltags lebensrettend, überrascht aber doch im Hinblick auf die Situation nach 1991. Doch kann auch Rutt Hinrikus zeigen, wie sehr die Erinnerungssituation in den 1990er Jahren noch von den Motiven der öffentlich zulässigen Denkmodelle der 1960er und 1970er geprägt war, inwieweit Topoi wie etwa der Heroismus der Rotarmisten oder die harte Realität der Strafbataillone auch in den im unabhängigen Estland formulierten Lebensgeschichten präsent sind.
Die Entscheidung, dass jeder Autor einen individuellen interpretierenden Essay zugeteilt bekommt, ist für den Leser, der einzelne Lebensgeschichten liest, sehr hilfreich, nicht zuletzt weil die Wissenschaftler meist recht emphatisch mit ‚ihren‘ Verfassern umgehen. So tragen die darin zutage geförderten, durch Archivrecherche oder Interviews mit den Autoren oder ihren Verwandten erhaltenen Zusatzinformationen zum Verständnis des jeweiligen Lebenswegs und der konkreten Situation des Schreibprozesses bei. Die Herangehensweise der einzelnen Wissenschaftler ist dann aber doch so unterschiedlich, dass ihre Essays kaum dabei helfen, die hier versammelten Lebensgeschichten in die größeren Diskussionen um Erinnerung und Gedächtnis einzuordnen. Die Debatten um „Befreiung“ bzw. „Okkupation“, die seit Jahren zwischen der Russischen Föderation und den baltischen Staaten geführt werden, können allerdings von dieser Sammlung von Lebensgeschichten eines lernen: Mit dem Sich-Durchwuseln der einzelnen Individuen haben derartige Narrative höchstens im idealisierenden bzw. verteufelnden Rückblick etwas zu tun.
Karsten Brüggemann, Tallinn
Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Ene Kõresaar (Hrsg.): Soldiers of Memory: World War II and Its Aftermath in Estonian Post-Soviet Life Stories. Amsterdam [etc.]: Rodopi, 2011. 441 S. ISBN: 978-90-420-3243-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Koresaar_Soldiers_of_Memory.html (Datum des Seitenbesuchs)
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1Immer noch lesenswert als hypothetische Versuchsanordnung der Zwänge und Zufälle, mit denen ein junger Litauer in diesen Jahren konfrontiert wurde: Joachim Tauber Zwischen Freiheitskampf und Massenmord: Versuch einer fiktiven litauischen Biographie aus den Jahren 1940 bis 1944, in: Kollektivität und Individualität. Der Mensch im östlichen Europa. Festschrift für Prof. Dr. Norbert Angermann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Karsten Brüggemann, Thomas M. Bohn und Konrad Maier. Hamburg 2001, 23, S. 405-427. = Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit.