Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karsten Brüggemann

 

Estonian Life Stories. Edited and translated by Tiina Kirss, compiled by Rutt Hinrikus. Budapest, New York: Central European University Press, 2009. XII, 542 S. ISBN: 978-963-9776-39-5.

Zwei Dinge kommen in dieser Publikation zusammen. Zum einen das durch diverse „turns“ hervorgerufene Interesse an dem individuellen Erleben als elementares Mosaiksteinchen einer regional oder kollektiv gefassten Geschichte; zum anderen das Bedürfnis im postsowjetischen Raum nach der ‚wahren‘ Geschichte jenseits der ideologischen Chiffren der Sowjetzeit. Letzteres hat in Estland zu einem Boom der Aufzeichnung von Lebensgeschichten geführt, welche mit Hilfe staatlich unterstützter Wettbewerbe gesammelt wurden. Aus den somit eingegangenen knapp 500 Texten individueller Geschichte hat Hinrikus 2000–2003 drei Bände auf Estnisch zusammengestellt (Rutt Hinrikus (Hrsg.): Eesti rahva elulood. Bd.13. Tallinn 2000–2003; vgl. Tiina Kirss / Ene Kõresaar / Marju Lauristin (Hrsg.): She Who Remembers Survives: Interpreting Estonian Woman’s Post-Soviet Life Stories. Tartu 2004; Suzanne Stiver Lie (Hrsg.): Carrying Linda’s Stones: An Anthology of Estonian Woman’s Life Stories. Tallinn 2006). Auch die im vorliegenden Band ins Englische übersetzten 25 autobiografischen Arbeiten entstammen diesem Wettbewerb.

So unterschiedlich der soziale Hintergrund der (mehrheitlich weiblichen) Autorinnen und Autoren auch ist, ihr Schwerpunkt liegt doch auf den Lebensgeschichten von Überlebenden und Opfern des stalinistischen Terrors. Damit sind die gesammelten Geschichten auch ein Spiegel der geschichtspolitischen Situation in Estland der 1990er Jahre, auch wenn gerade die individuelle Erfahrung deutlich macht, dass bei allen Gemeinsamkeiten des Narrativs des kollektiven Traumas doch erhebliche Unterschiede auftreten konnten, und wie viel für das jeweilige Schicksal von Alter, Gesundheitszustand, dem Ort der Gefangenschaft, aber oft auch von Glück und Zufall abhängig war, wie Hinrikus im Vorwort schreibt (S. XI). Wer sich somit mit Hilfe der hier versammelten Lebensgeschichten ein Bild der Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert machen will, darf nicht von der Repräsentativität des hier Geschilderten ausgehen. Nicht nur, dass die Täter (wie auch die Toten) schweigen – schaut man sich die Geburtsjahre der 25 Autorinnen und Autoren an, überwiegen die Jahre zwischen 1918 und 1944. Die meisten von ihnen haben somit den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt, und acht der zwölf männlichen Autoren haben in diversen Armeen gedient. Nur zwei Autoren sind noch in der Zarenzeit geboren, nur eine in der Sowjetzeit (1973). Eine weitere Einschränkung stellt die ethnische Herkunft der Autoren dar, denn wenigstens in dieser Sammlung kommen nur Esten vor, auch wenn es mittlerweile durchaus Sammlungen russischer – ‚estländischer‘ – Lebensgeschichten gibt (Rutt Hinrikus (Hrsg.): Rasskaži o svoej žizni. Žizneopisanija ėstonozemel’cev. Tallinn 2005; Volita Paklar (Hrsg.): Ėstonija – moj dom. Žizneopisanija ėstonozemel’cev. Tallinn 2009.).

Allerdings bilden die im anzuzeigenden Band geschilderten Erfahrungen tatsächlich ein breites Spektrum ab. Dreh- und Angelpunkt der Lebensläufe sind meist die Jahre 1939 bis 1944, die auch verantwortlich sind für die recht unterschiedlichen Wege, die die einzelnen Personen später gegangen sind: sowjetische Deportation und Rückkehr, Exil im Westen oder Verbleiben in der Heimat. Was wiederum fehlt, ist die Lebensgeschichte eines sowjetischen Funktionärs, aber auch das ist noch mit der vorherrschenden geschichtspolitischen Kultur des Landes erklärlich.

Was diesen Band auszeichnet ist die ausführliche Einleitung, die die Literaturwissenschaftlerin Kirss gemeinsam mit dem in Toronto lehrenden Historiker Jüri Kivimäe verfasst hat (S. 1–31). Hier wird gleich zu Beginn zu bedenken gegeben, dass die Lebensgeschichten „at a particular juncture in Estonian national history“ verfasst worden sind. Es ist nur zu begrüßen, dass hier nicht einfach eine Nacherzählung der „großen Geschichte“ heruntergebetet, sondern der Versuch gemacht wird, dem Leser für die Lektüre methodische Hilfe an die Hand zu geben, um die Texte im Kontext der wissenschaftlichen Debatten über Geschichte und Erinnerung zu verorten. Nach einer Betrachtung der Bedeutung des Schreibens für die kulturelle Entwicklung eines Kollektivs, einer „vorgestellten Gemeinschaft“, und der Rolle, die Bildung im estnischen Kontext spielt, werden die narrativen Strategien untersucht, derer sich die Autoren der Lebensgeschichten bedienen. Sie beginnen meist mit einer genealogischen Synopsis, in der die dramatis personae eingeführt, aber auch Herkunft und Familie fixiert werden. Sodann werden die persönlichen Netzwerke erläutert, die im ruralen Kontext meist das Heimatdorf, im urbanen Raum eher Freundschaften und professionelle Kontakte aufweisen. Ein drittes Merkmal ist die detaillierte Beschreibung der eigenen Räume, verstanden sowohl im Sinne des Eltern- oder Schulhauses als auch der Höfe oder Wiesen (nicht unbedingt nur) der Kindheit. Schließlich folgt die Orientierung im zeitlichen Raum, die meist anhand von traditionellen Festen erfolgt (Johannis- oder Georgstag, Weihnachten), aber auch nationale Feiertage wie den „Siegestag“ (23. Juni) der Estnischen Republik einbezieht.

So vorbereitet kann sich der Leser auf die ihm oft unbekannten estnischen Lebenswelten zur Zeit der Unabhängigkeit wie auch der Sowjetrepublik einlassen. Das Verständnis des spezifischen lokalen Kontextes wird über Fußnoten und ein Glossar (S. 511–525) erleichtert, welches historische Zusammenhänge wie auch spezielle Begriffe erläutert. Eine Karte veranschaulicht den geografischen Raum, in dem sich die Lebensgeschichten abspielten. Insgesamt ist es nur zu begrüßen, dass die überaus erfolgreiche Sammlung estnischer Lebensgeschichten in dieser reflektierten Form einem größeren Publikum zugänglich gemacht wird. Wer von Sofi Oksanens Bestseller „Fegefeuer“ für estnische Schicksale empfänglich gemacht worden ist, wird in diesem Buch durchaus einiges lesen können, was dem fiktionalen Konstrukt der Schriftstellerin historische Erfahrungen gegenüberstellt, wie sie – mit Verlaub – wirklich gewesen sind.

Karsten Brüggemann, Tallinn

Zitierweise: Karsten Brüggemann über: Estonian Life Stories. Edited and translated by Tiina Kirss, compiled by Rutt Hinrikus. Budapest, New York: Central European University Press, 2009. XII- ISBN: 978-963-9776-39-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Kirss_Estonian_Life_Stories.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Karsten Brüggemann. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.