Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Mark Brüggemann

 

Olga Alekseeva / Hans-Georg Heinrich: Ethnic Minorities of Central and Eastern Europe in the Internet Space. A Computer-Assisted Content Analysis. Frankfurt a.M., Bern, Bruxelles [usw.]: Lang, 2013. 165 S., Tab., zahlr. Graph. ISBN: 978-3-631-62847-8.

Die vorliegende Studie ist zwischen 2008 und 2011 entstanden als Teil eines EU-finanzierten Forschungsprojekts zum Zusammenspiel europäischer, nationaler und regionaler Identitäten entlang der neuen EU-Ostgrenze. Die Verfasser setzen sich das Ziel, mit einer Inhaltsanalyse der Internetressourcen von 12 Minderheiten in sieben Ländern die jeweilige Konstruktion von Identität zu erforschen.

Im Einzelnen untersuchen Alekseeva und Heinrich Internetressourcen der Russen in Lettland und Litauen, der Weißrussen in Litauen und Polen, der Ukrainer in Polen und Ungarn, der Polen in Litauen, Weißrussland und der Ukraine, der Ungarn in der Slowakei und der Ukraine sowie der Slowaken in Ungarn. Erhoben wurden zu diesem Zweck für den Zeitraum von 2005 bis 2010, vereinzelt auch für frühere Jahre, Beiträge aus Online-Zeitschriften, Nachrichtenportalen, Internetpräsenzen von Jugendorganisationen, religiösen, politischen und kulturellen Vereinigungen, ferner in Blogs und Foren sowie auf persönlichen Homepages. Die Größe der analysierten Stichprobe umfasst 340 Textfragmente, die in den Internetressourcen der Minderheiten durch Stichwortsuche aufgefunden wurden, wenn eine solche Suchfunktion vorgesehen war, ansonsten mit Hilfe weniger verlässlicher Verfahren.

In einem ersten Analyseschritt legten die Autoren Basis-Informationen über die ausgewerteten Textfragmente (sowie auch die Quellen) in einem Kategoriensystem ab, das mit der Software „Simstat“ erstellt wurde. Zweiter Schritt war die Arbeit mit „Wordstat“-Kategorien; diese wurden, dem Paradigma der „grounded theory“ folgend, während der hermeneutischen Dateninterpretation verifiziert und gegebenenfalls verändert.

Der Ergebnisteil beginnt mit den ermittelten Anteilen für die Simstat-Kategorien „Intention“, „Ideologie“, „Stil“ und „Emotionalität“ der Textfragmente (S. 57–65). Auf eine inhaltliche Interpretation der Resultate wird weitgehend verzichtet. Deutlich umfangreicher fallen die Ausführungen zu den Wordstat-Kategorien aus (S. 65–92), die im Einzelnen lauten: „Nationalbewusstsein und Mutternation“ (S. 65–71), „kulturelle Attribute von Identität“ (S. 71–76), „ethnische Rechte und Verhältnis zum Gastgeberland“ (S. 77–79), „Nationalismus und ethnische Konflikte“ (S. 79–81), „Zivilgesellschaft“ (S. 81–86) und „europäische Perspektive“ (S. 87–90). Arbeitshypothese der Untersuchung ist, dass sich in den Textfragmenten eine klare Dichotomie zwischen konservativ-autoritärer und progressiv-demokratischer politischer Kultur beobachten lässt, die auf der einen Seite Kodierungen wie Patriotismus, Tradition und Erhalt des Nationalbewusstseins umfasst, auf der anderen Seite etwa zivilgesellschaftliche Aktivität, eine proeuropäische Gesinnung und Multikulturalismus. Letztlich verbinden sich den Verfassern zufolge aber Wertvorstellungen aus beiden Bereichen; mithin seien die Minderheiten an den neuen EU-Ostgrenzen kritische, aber loyale Bürger ihres jeweiligen Staates (S. 95).

Zwei Mängel des Ergebnisteils sind zu benennen: Zum einen wird die zum Teil fragliche Abgrenzbarkeit der Erhebungskategorien nicht ausreichend problematisiert; zum anderen fehlt eine Diskussion darüber, dass Begriffe wie „Multikulturalismus“ und „Zivilgesellschaft“ je nach politischer Kultur des jeweiligen Landes ganz unterschiedlich verstanden werden können.

Der dritte und letzte Teil der Studie betrachtet die jeweiligen Minderheiten separat und unterfüttert die statistischen Auswertungen mit einigen Zitaten aus den untersuchten Internetressourcen (S. 97–148). Zu den aufschlussreichen Befunden gehört hier, dass die ungarischen Minderheiten zumindest in der Slowakei und der Ukraine offenbar keineswegs den nationalistischen Kurs der Orban-Regierung stützen, sondern überwiegend proeuropäische Positionen vertreten. Die Web-Portale der Weißrussen in Litauen wiederum sind in Anhänger und Gegner des Lukašėnka-Regimes gespalten; hinsichtlich der Weißrussen in Polen wäre es interessant gewesen zu erfahren, welche Rolle heute noch der in den neunziger Jahren schwelende Konflikt zwischen Minderheitenvertretern aus dem postkommunistischen Lager einerseits und aus dem Post-Solidarność-Milieu andererseits spielt.

Diese Frage wie auch andere Fragen, die sich in Bezug auf die untersuchten Minderheiten immer wieder stellen, beantwortet die Studie nicht. Aufgrund ihres quantitativ-inhaltsanalytischen, sieben Länder und 12 Minderheiten umfassenden Forschungs­designs kann sie dies auch gar nicht leisten. Aus Sicht des Rezensenten wäre die Relevanz der Ergebnisse jedoch erhöht worden, hätten sich die Verfasser auf wenige, poli­tisch-historisch eng verflochtene Minderheiten beschränkt und die Inhaltsanalyse durch dis­kursanalytische Vertiefungen ergänzt.

Mark Brüggemann, Oldenburg

Zitierweise: Mark Brüggemann über: Olga Alekseeva / Hans-Georg Heinrich: Ethnic Minorities of Central and Eastern Europe in the Internet Space. A Computer-Assisted Content Analysis. Frankfurt a.M., Bern, Bruxelles [usw.]: Lang, 2013. 165 S., Tab., zahlr. Graph. ISBN: 978-3-631-62847-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Brueggemann_Alekseeva_Ethnic_Minorities.html (Datum des Seitenbesuchs)

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