Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Bernd Bonwetsch

 

Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 30. Januar 1933 – 31. Dezember 1934. Teilband 1: Januar 1933 – Oktober 1933; Teilband 2: November 1933 – Dezember 1934. Im Auftrag der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen hrsg. von Sergej Slutsch und Carola Tischler unter Mitarbeit von Lothar Kölm. Projektbetreuung: Bianka Pietrow-Ennker. München: Oldenbourg, 2014. X, 1553 S. ISBN: 978-3-486-71295-7.

Nach Jahren sorgfältiger Vorbereitung ist nun der erste Band der von Sergej Slutsch und Carola Tischler unter Mitarbeit von Lothar Kölm besorgten, auf vier Bände angelegten Dokumentation zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1933–1941 erschienen. Eine russische Ausgabe erscheint ebenfalls. Auch wenn es bereits die allgemeinen Editionen zur deutschen und zur sowjetischen Außenpolitik, die Akten zur deutschen auswärtigen Politik (ADAP) und die Dokumenty vnešnej politiki SSSR (DVP) und zwei gesonderte Publikationen sowjetischer, aus dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation (AP RF) stammender Dokumente zur sowjetischen Deutschlandpolitik gibt (SSSRGermanija. 1933–1941. Vestnik Archiva Prezidenta Rossijskoj Federacii. Moskva 2009; MoskvaBerlin. Politika i diplomatija Kremlja 1920–1941. Sbornik dokumentov v tomach. Moskva 2011), so weisen die Bearbeiter darauf hin, dass damit weder aus den deutschen noch aus den sowjetischen Archiven alle wichtigen Aspekte der deutsch-sowjetischen Beziehungen in dieser Phase dokumentarisch zugänglich gemacht worden sind und dass manche in DVP veröffentlichte Dokumente nach politischen Kriterien durch Auslassung ‚frisiert‘ worden seien. Die Bearbeiter ihrerseits haben in den einschlägigen deutschen und russischen Archiven – vor allem im Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes und im Archiv Vnešnej Politiki Rossijskoj Federacii (AVP RF) – nach Materialien gesucht, die nicht nur im Wesentlichen die politischen Beziehungen, sondern die „Beziehungen in ihrer Gesamtheit“, d.h. auch unter Einbeziehung der „wirtschaftlichen, militärischen und kulturellen Ebene“ repräsentieren (S. VIII).

Dazu haben sie in den ersten beiden Teilbänden, die die Jahre 1933–1934 umfassen, insgesamt 565 Dokumente veröffentlicht, je etwa zur Hälfte sowjetische und deutsche. Selbstverständlich ist davon schon manches veröffentlicht – vor allem in ADAP und DVP. Eine konkrete Angabe zur Zugänglichkeit russischer Archivalien wird sibyllinisch vermieden (S. 46). Was den Bearbeitern mit Sicherheit verschlossen blieb, das ist die Einsichtnahme in den chiffrierten Telegrammverkehr zwischen dem sowjetischen Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten (Narkomindel) und seinen Vertretern in Deutschland. Auch ist nicht angegeben, auf welche Weise die Auswahl der Dokumente des AVP vor sich ging. Immerhin ist das AVP RF ein služebnyj, ein Dienstarchiv, das Historikern keineswegs freien Zugang gestattet. Ebenso gravierend ist die Tatsache, dass die Bearbeiter zu den Deutschlandbeständen des AP RF keinen Zugang hatten. Nicht einmal die Deutsch-Russische Historikerkommission konnte offenbar diesen Zugang erwirken, obwohl diese Bestände seit 2008 deklassifiziert und zu einem nicht geringen Teil in den oben genannten Editionen gedruckt sind. So haben die Bearbeiter nur einige Dokumente aus dem Band SSSRGermanija wiedergeben. Dokumente aus der Veröffentlichung MoskvaBerlin konnten nicht mehr aufgenommen werden. Deren dritter Band ist allerdings auch wenig ergiebig.

Dennoch hat die neue deutsch-russische Edition selbstverständlich großen Wert. Wer sich auf ihrer Basis mit den Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland befasst, braucht dies nicht mehr nur, wie jahrzehntelang geschehen, im Wesentlichen auf der Basis der deutschen Akten zu tun. Endlich stehen dem deutschsprachigen Nutzer auch die sowjetischen Dokumente und Gegenüberlieferungen zu den gleichen Sachverhalten zur Verfügung. Alle Dokumente sind chronologisch angeordnet, so dass sowjetische und deutsche Dokumente direkt aufeinander folgen. Die Dokumente sind, auch das ist für die Nutzung erfreulich, im Dokumentenverzeichnis durch Regesten erschlossen. Das erleichtert die thematische Suche. Besonders erhellend ist es, die in der Regel sehr nüchternen Urteile der sowjetischen Diplomaten und Mitarbeiter des Narkomindel über die Vorgänge in Deutschland zur Kenntnis zu nehmen. Das sind keine parteiideologisch verblendeten Urteile, wie sie in der Komintern noch länger üblich waren und wie sie auch Stalin zumindest öffentlich kundtat – so wenn er, wie Herausgeber Slutsch betont, auf dem 17. Parteitag erklärte, dass in Deutschland die revolutionäre Krise heranreife und dem Faschismus keine lange Lebensdauer beschieden sei (S. 22, Anm. 84). Doch interne Urteile lauteten anders. So erklärte der Leiter der 2. Westabteilung des Narkom­indel Štern schon zwei Tage nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, dass diese Ernennung für Deutschland ein historisches Datum sei und dass sich Hitler gegen Hugenberg und Seldte, d. h. die DNVP und den Stahlhelm, durchsetzen werde (S. 141). Aber auch Stalin notierte am 20. März 1933 am Rande einer ihm viel zu optimistisch scheinenden und von ihm stark redigierten Resolution des EKKI zur Lage in Deutschland: „Keine dicke Lippe riskieren. Man muss anerkennen, dass einstweilen sie [die Faschisten] es sind, die gewonnen haben.“ (SSSRGermanija, S. 53.)

Inhaltlich erwarten den Nutzer – wie auch in den Dokumenten aus dem AP RF – keine Sensationen, sondern die dokumentarische Bestätigung und Vertiefung bereits bekannter Vorgänge. Der Hauptbearbeiter Sergej Slutsch macht das schon in seiner Einleitung deutlich, in der er alle „Schlüsselfragen“, die in den ersten 23 Monaten der Herrschaft Hitlers die Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion prägten, anhand der veröffentlichten Dokumente erläutert und den Leser an den wichtigsten Erkenntnissen, die die neue Veröffentlichung bringt, teilnehmen lässt. Dabei wird erneut deutlich, dass die sowjetische Seite und vor allem Stalin als die eigentliche Instanz zur Entscheidung außenpolitischer Fragen immer wieder bemüht waren, die schwierigen Beziehungen zum 3. Reich leidlich positiv zu gestalten und die scharfen innenpolitischen Gegensätze nicht auf die staatlichen Beziehungen beider Länder durchschlagen zu lassen. Dabei trafen sich allerdings diese Bemühungen durchaus mit denen des AA und einiger höherer Chargen in der Führung des NS-Regimes.

Eine nicht unwichtige Erkenntnis ist, dass deutsche und sowjetische Aufzeichnungen von gemeinsamen Gesprächen keine echten inhaltlichen Differenzen erkennen lassen, wie Stichproben ergeben. Dieses Problem unterschiedlicher Aufzeichnungen über dasselbe Ereignis wird vermutlich erst wirklich spannend, wenn es um die Frage geht, welche Seite letztlich die Initiative zur deutsch-sowjetischen Annäherung 1939 und zum Abschluss des Nichtangriffspaktes ergriff. Sergej Slutsch ist da Vertreter dezidierter Auffassungen. Bis sie an der neuen Dokumentenedition überprüft werden können, werden offenbar noch einige Jahre verstreichen.

Bernd Bonwetsch, Ebeltoft, Dänemark

Zitierweise: Bernd Bonwetsch über: Deutschland und die Sowjetunion 1933–1941. Dokumente aus russischen und deutschen Archiven. Band 1: 30. Januar 1933 – 31. Dezember 1934. Teilband 1: Januar 1933 – Oktober 1933; Teilband 2: November 1933 – Dezember 1934. Im Auftrag der Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen hrsg. von Sergej Slutsch und Carola Tischler unter Mitarbeit von Lothar Kölm. Projektbetreuung: Bianka Pietrow-Ennker. München: Oldenbourg, 2014. X, 1553 S. ISBN: 978-3-486-71295-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bonwetsch_Slutsch_Deutschland_und_die_Sowjetunion_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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