Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kirsten Bönker
Graeme Gill: Symbols and Legitimacy in Soviet Politics. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2011. VI, 356 S. ISBN: 978-1-107-00454-2.
Der renommierte australische Politologe Graeme Gill ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zum sowjetischen wie postsowjetischen Herrschaftssystem ausgewiesen. 2011 hat er nun eine Studie vorgelegt, die untersucht, wie das Sowjetregime in der Bevölkerung Legitimität zu erzeugen versuchte und auf welche sich mit den verschiedenen Herrschaftsphasen wandelnde Strategien es dabei zurückgriff.
Im einführenden Kapitel erläutert Gill sein Konzept und die zentralen Analysebegriffe. Im Folgenden betrachtet er chronologisch in vier Abschnitten die Herrschaftsphasen in Sowjetrussland bzw. der Sowjetunion: Zunächst ihre Formierung seit dem Oktoberumsturz bis 1929, zweitens den Stalinismus, drittens die Chruščev- und Brežnev-Ära sowie viertens die Phase der Perestrojka bis zum Zufall der UdSSR 1991. Eine Zusammenfassung des Wandels der Legitimierungsstrategien und Herrschaftssymboliken rundet die Monographie ab.
Gill betrachtet die Sowjetunion als eine Ideokratie, die nicht nur die Organisation der Gesellschaft, die Sprache und das Verhalten der Menschen verändern wollte, sondern vor allem auch ihr Denken. Der revolutionäre Anspruch des Sowjetregimes zielte daher auf nicht weniger als auf eine neue Zivilisation, wie Gill im Einklang mit der neueren kulturwissenschaftlich orientierten Stalinismusforschung argumentiert. „Zivilisation“ ist ein großer Begriff, der forschungspraktisch eher schwer in den historischen Alltag zu übersetzen zu sein scheint. Um sich dem bolschewistischen Zivilisationsprojekt zu nähern, konzentriert sich Gill auf die im Titel der Monographie in den Mittelpunkt gerückte „sowjetische Politik“. Zwar bleibt im Dunkeln, was genau unter „Politik“ in diesem Kontext der Regimelegitimierung zu verstehen ist. Dennoch überzeugt es grundsätzlich und entspricht der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung, dass der Verfasser Politik als symbolisch und damit als kommunikativ konstituiert begreift. Gerade seitdem die russischen Archive zugänglich sind, sind zahlreiche Studien entstanden, die die sowjetischen Symbolwelten und Repräsentationen in verschiedenen Kontexten untersuchen. So rückten die Fest- und Alltagskultur, Rituale, Gewalt, Visualisierungen von Herrschaft und Macht oder die architektonische Umgestaltung der Räume in den Blick. Angesichts dieses umfangreichen Forschungsfeldes beeindruckt Gills Anspruch, den Wandel der Legitimierungs- und Symbolstrategien des Sowjetregimes über sieben Jahrzehnte zu untersuchen, als ein komplexes Unterfangen.
Gill versucht, die Zivilisation auf drei diskursiven Ebenen zu fassen: Neben der Ideologie sind in seiner Konzeption Metanarrative und Mythen zentrale Ressourcen, die dem Regime halfen, in der Bevölkerung Legitimation zu gewinnen. Während die Ideologie als ein übergeordnetes Set an Werten, Prinzipien und Argumenten zu verstehen ist, verkörperte das Metanarrativ das Medium, über das die Ideologie in alltagstaugliche und allgemein verständliche Kommunikationsweisen zwischen Regime und Bevölkerung umformuliert wurde. Das sowjetische Metanarrativ basierte auf Mythen und zielte auf die symbolische Formung der Gesellschaft. Die Mythen luden die Rituale, die die Sowjetbürger zu einer Gemeinschaft zusammenschließen sollten, mit Bedeutung auf (S. 2–3). Gill knüpft mit dem Mythenbegriff an Murray Edelmans aus den 60er Jahren stammendes Konzept über die Rolle von Symbolen in der Politik an. Der Zugriff, auch komplexe Industriegesellschaften als symbolisch konstruiert zu betrachten, überzeugt besonders für die Sowjetgesellschaft, in der Rituale und Symbole eine nahezu alltägliche Bedeutung erlangten. Im Sinne anthropologischer Ansätze argumentiert Gill, dass die Sinnangebote der Mythen nachhaltig auf die Gemeinschaft wirkten, sobald die Menschen sie akzeptierten. Ihre Grundmechanismen bestünden darin, der Gemeinschaft eine äußere Bedrohung, die Gegenwart eines Retters und eine goldene Zukunft zu versprechen (S. 4). Die Erklärungskraft dieses Ansatzes erschließt sich für ein autoritäres Regime auf den ersten Blick. Gill identifiziert für die sowjetische Gesellschaft sechs Mythen: die Oktoberrevolution, den Aufbau des Sozialismus und die Umgestaltung der Gesellschaft, die Führung auf dem Weg zum Kommunismus, innere Opposition, äußere Opposition und der Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Den diskursiven Ebenen Ideologie, Metanarrativ und Mythos ist gemeinsam, dass sie über Symbole funktionieren, die Ideen vereinfachen, versinnbildlichen und visualisieren können. Das sowjetische Metanarrativ bestand laut Gill aus vier Hauptsymboltypen: Sprache, Visualisierung, Raum und Ritual. Die Sprache als Hauptmedium der Kommunikation sei dabei der wichtigste Typus gewesen, indem die politische Elite mit ihrer Hilfe maßgeblich die richtungweisenden ideologischen Konzepte formulierte. Über Begriffe wie Sozialismus, Proletariat oder Bourgeoisie erlangte sie nicht zuletzt dank Repressionen und Zensur ihre diskursive Autorität, die mythischen Sinnangebote zu bestimmen (S. 6). Als Visualisierungen fasst Gill vor allem künstlerische Erzeugnisse und Poster als „ideologische Waffe“ (S. 11). Mit Blick auf die Raumkonfigurationen dominierten aus Sicht des Verfassers die Umgestaltung der städtischen Infrastruktur als Symbol der neuen Macht auf der einen Seite und der Natur auf der anderen (S. 12–13). Der vierte Symboltyp, das Ritual, umfasste insbesondere die performativen Aspekte der Festkultur, des Alltags und der politischen Versammlung (S. 15–16).
Nach dem Maß, in dem Symbole und das Metanarrativ flexibel sein konnten, mehrere Sinnangebote zuließen und ihre Bedeutungen sich über die Jahre wandeln konnten, identifiziert Gill sieben Legitimationsmodi, die zu unterschiedlichen Zeiten virulent wurden bzw. in verschiedenen Mischungsverhältnissen die eingangs genannten Mythen trugen: den ideokratischen, den teleologischen bzw. zweckrationalen, den charismatischen, den nationalistischen, den performativen, den demokratischen und den legal-rationalen (S. 24–25).
Gills eigene Erzählung spannt einen Bogen, der in der ersten Periode ab 1917 mit der Dominanz einer nationalistischen und einer charismatischen Legitimierungsstrategie beginnt. Erstere richtete sich gegen die von äußeren Feinden drohende Gefahr; die zweite basierte auf Lenins ideologischer Autorität. Sie überwölbten unter anderem den Mythos um den Kampf zwischen sozialistischen und kapitalistischen Elementen, den Umgang mit Bauern und Kulaken.
Während unter Stalin alle Legitimationsstrategien dem Charisma des Führers unterlagen, sei unter Chruščev und Brežnev die Partei in den Vordergrund getreten. Gleichzeitig habe das Regime Akzeptanz durch einen steigenden Lebensstandard und den Sieg gegen den Faschismus gewinnen wollen. Gorbačev habe schließlich das Ende der Sowjetunion eingeläutet, indem es ihm nicht gelang, eine neue Kombination aus demokratischen und rechtlich-rationalen Legitimationsstrategien zu etablieren.
Gills Anspruch ist es, auf der Grundlage des sich wandelnden Metanarrativs und der Legitimationsstrategien ein zentrales Element für den Zerfall der Sowjetunion zu beschreiben. Als ursächlich dafür betrachtet er in diesem Zusammenhang letztlich die Erosion des sozialistischen Kerns des kommunistischen Zukunftsversprechens und eine zunehmende Inkohärenz der Strategien – vor allem durch die Verschiebung vom Gründungsmythos der Oktoberrevolution hin zum Sieg im Zweiten Weltkrieg – die noch unter Stalin durch die charismatische Führerpersönlichkeit potentiell überdeckt worden sei. Gerade dadurch, dass Chruščevs den Eintritt in den Kommunismus terminiert und als Übergang in die Überflussgesellschaft definiert habe, sei, so der Verfasser, die ideologische Legitimierung verloren gegangen, da das Ziel nicht mehr ein neuer bzw. besserer Gesellschaftstyp zu sein schien und Unterschiede zum Westen verwischt worden seien. Außerdem seien die Diskrepanzen zwischen Versprechen und Realität größer bzw. messbar geworden. Gorbačev habe dann die Regeln der Kommunikation verändert und die Repression gegen oppositionelle Meinungen aufgehoben, was die Symbole und die Sprache nachhaltig gewandelt habe.
Es ließen sich noch ein Vielzahl von spannenden Überlegungen aus der vorliegenden Studie hier anführen, die den Wert der Herangehensweise unterstreichen, die Ideologie in den Blick zu nehmen und das Sowjetsystem auf seine symbolisch-kommunikative Konstituierung zu überprüfen. Dennoch bleiben einige wichtige Fragen offen bzw. offenbart Gills Argumentation einige Schwächen. Einige Kritikpunkte betreffen den methodischen Zugriff. Er erscheint an vielen Stellen einerseits seltsam schematisch, andererseits aber in seinen begrifflichen Unterscheidungen über Ideologie, Metanarrativ und Mythos unscharf und verwirrend. Dabei verfügt er auch nicht über eine ausreichende Tiefenschärfe, um die überwiegend schon bekannten Aspekte und einzelnen Argumente in der Gesamtschau in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Gerade die Beschreibung der sich verändernden Mischungen der Legitimationsmodi wirft eher neue Fragen auf, als dass sie die zentrale Frage beantwortet, wie denn die Legitimierung im Einzelnen funktionierte. Das hängt zum einen damit zusammen, dass Gill zwar betont, dass ein Publikum – er benennt mit der politischen Elite, den untergeordneten politischen Funktionsträgern und der Bevölkerung drei Adressatengruppen – in eine Art Aushandlungsprozess eingebunden gewesen sei, andererseits aber nicht wirklich wechselseitige Kommunikation beleuchtet. So schwierig zu untersuchen Fragen der Rezeption auch sind, bleibt es dennoch unbefriedigend, sie, wie in diesem Fall, nur durch die Brille der Elitendiskurse zu präsentieren.
Auch verlassen viele Argumentationen trotz des vielversprechenden Ansatzes, Kommunikation zu betrachten, nicht die konventionellen Pfade und ähnelt stark einer Parteigeschichte mit neuen Etiketten. Obwohl Gill die Bedeutung der neuen Visualisierungen z.B. über politische Plakate betont, analysiert er konkrete Bilder nur durch sprachliche Beschreibungen und präsentiert leider keine Abbildungen. Presse, Radio und vor allem das Leitmedium der 70er und 80er Jahre, das Fernsehen, finden kaum oder gar keine Erwähnung.
Schließlich erscheinen gerade diejenigen zentralen Erosionsprozesse, die Gill, um hier zwei exemplarisch herauszugreifen, unter anderem am Charisma und am Kommunismusversprechen als Legitimationsstrategien festmacht, als fragwürdige Punkte seiner Argumentation. Das Narrativ des guten Führers war einerseits an Stalin gebunden, funktionierte aber andererseits weniger über Charisma im Weberschen Sinne, sondern, wie Gill selbst betont, über die überzeitliche Verbindung zum Leninkult und den Glauben an paternalistische Wohltaten für die Bevölkerung. Insofern ist der Wandel vom Stalin- zum Brežnev-Kult nicht umstandslos als Erosion der Glaubwürdigkeit zu betrachten.
Auch die Wirkung des konkreten Kommunismusversprechens und die angebliche Aushöhlung der ideologischen Botschaft können nicht einfach in einer fortan messbaren Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität gesehen werden. Vielmehr müssten hier die komplexen Umdeutungen, Schuldzuweisungen auf lokaler Ebene für Fehlschläge, Konsummängel oder Amtsmissbrauch und konkrete Kommunikationsprozesse zwischen Regime und Bevölkerung untersucht werden. Nur so ließe sich klären, warum es z.B. in der Brežnev-Ära generell nicht zu Unruhen gekommen ist. Daneben war der Sieg über den Faschismus, der in der Brežnev-Ära verstärkt zelebriert worden ist, im Vergleich zum Gründungsmythos der Oktoberrevolution sicherlich nicht weniger wirksam, eine kollektive Identität zu schaffen.
Alles in allem lässt sich festhalten, dass Gills flüssig geschriebene Synthese trotz der nicht unerheblichen Kritikpunkte dem Leser zahlreiche Denkanstöße und einen souveränen Längsschnitt durch die sowjetische Herrschafts- und Parteigeschichte bietet. Solange der Leser nicht mehr erwartet, eignet sie sich daher zum Einstieg in das umfangreiche Forschungsfeld der symbolischen Politik der Sowjetunion.
Zitierweise: Kirsten Bönker über: Graeme Gill: Symbols and Legitimacy in Soviet Politics. Cambridge [etc.]: Cambridge University Press, 2011. VI, 356 S. ISBN: 978-1-107-00454-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Boenker_Gill_Symbols_and_Legitimacy.html (Datum des Seitenbesuchs)
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