Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Kerstin Bischl
Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945. Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2010. 416 S., Abb. ISBN: 978-3-86854-220-2.
Zu den Mythen über die „saubere Wehrmacht“ gehörte lange die Vorstellung, dass von den deutschen Soldaten in der besetzten Sowjetunion keine sexuelle Gewalt gegenüber einheimischen Frauen ausging. Selbst über einvernehmliche Beziehungen ist wenig bekannt. Das Ziel von Regina Mühlhäusers Monographie ist es, diese Leerstelle zu füllen und die Verschiedenartigkeit der heterosexuellen Begegnungen im deutschen Vernichtungskrieg zu beschreiben. Besonderes Gewicht legt sie dabei auf die Vielfältigkeit der verwendeten Quellen und auf deren „Entschlüsselung und theoretische Deutung […] im Sinne der Foucaultschen Erkenntnis, dass sexuelle Vorstellungen und Praktiken nichts Gegebenes […] sind, sondern eine Form von Macht/Wissen darstellen, die immer wieder neu hergestellt […] werden muss“. Bei diesen Quellen handelt es sich um Selbstzeugnisse und Erinnerungserzählungen der deutschen Soldaten, um Akten von SS, Wehrmacht und der Besatzungsbehörden, um Selbstzeugnisse der Verfolgten sowie um Berichte aus der einheimischen Bevölkerung, sofern diese in der deutschen oder englischen Übersetzung zugänglich sind (S. 28, 47).
Die Studie beginnt mit der Vorstellung der Forschungsliteratur und der Quellenlage, die mit Überlegungen zu Männlichkeit, Weiblichkeit, Körperlichkeit, Gewalt und (Besatzungs-) Kindern verbunden wird. Mühlhäuser führt dabei aus, dass Sexualität in den zeitgenössischen Selbstzeugnissen nur spärlich erwähnt wird ‒ wenn sie nicht ganz negiert wird. Insbesondere aber in den offiziellen Dokumenten kommt sie zur Sprache, da die deutschen Entscheidungsträger den Zugriff auf die Sexualität der Soldaten und die Überlegungen zum Umgang mit Besatzungskindern selbstverständlich zu ihren Aufgabengebieten zählten.
Flankiert von privaten Fotografien von Wehrmachtssoldaten, die von Petra Bopp zusammengestellt wurden, folgen nun Kapitel zu sexueller Gewalt, sexuellen Tauschgeschäften und einvernehmlichen Verhältnissen. Die Beschreibung der sexuellen Gewalttaten wird nach grundsätzlichen Überlegungen zum juristischen und historiographischen Umgang mit dem Tatbestand ‒ in dessen Zuge die Autorin sich vom Begriff der „sexualisierten Gewalt“ distanziert ‒ an die Situationen der deutschen Kriegsführung gekoppelt. Hierbei wird nicht nur deutlich, wie verschieden die sexuellen Gewalttaten waren, die in allen Kriegssituationen stattfinden konnten, sondern auch, dass sie für die deutschen Männer sehr unterschiedliche Bedeutungen hatten. Mühlhäuser verweist hier auf den für sie sehr zentralen Widerspruch, dass soldatische Männlichkeit sowohl erzwungene Sexualität wie auch „ehrenvolles“ Verhalten beinhalten konnte, auch wenn die Gründe hierfür z. T. offen bleiben. Artikuliert wird dieser Widerspruch insbesondere in den Dokumenten der deutschen Entscheidungsträger, die den Soldaten „Notzucht“, insbesondere „Rassenschande“ verboten, jedoch auch Nachsicht mit den Soldaten äußerten und ihnen Sexualität zugestanden, sofern diese nicht der „Manneszucht“, d.h. der Truppendisziplin und im weiteren Sinne auch den Interessen von Kriegsführung und Bevölkerungspolitik, entgegenstand. Um eine derartige Sexualität zu gewährleisten ‒ und somit auch den Besuch „geheimer Prostituierter“, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten und unkontrollierte Tauschgeschäfte zu unterbinden ‒ sollten die Soldaten verschiedentlich belehrt und diszipliniert werden. Zudem wurden Wehrmachtsbordelle eingerichtet. Die Entwicklung der sexuellen Tauschgeschäfte und die Überlegungen der Behörden zu diesen werden im gleichnamigen Kapitel ebenso nachgezeichnet wie in der Hungerpolitik der Besatzung verortet; ebenso wird mit den einvernehmlichen Beziehungen im darauf folgenden Kapitel verfahren. Hier führt Mühlhäuser das „Begehren der Männer nach Normalität“ ein ‒ leider ohne den in einer Unterkapitel-Überschrift verwendeten Begriff der „Normalität“ zu historisieren ‒ und die „Sehnsucht der Frauen nach neuen Erfahrungen“, wozu auch Beziehungen des eigenen Überlebens wegen gezählt werden. Nach dem zweiten Teil der soldatischen Privatfotos folgt das letzte Kapitel zu den administrativen Überlegungen über die Besatzungskinder, deren Zahl völlig überschätzt wurde. Diese sollten erfasst, „ausgelesen“ und versorgt werden, um die Geburtenrate in Deutschland auszugleichen und die deutschen „Blutsanteile“ zu sichern.
Regina Mühlhäuser gelingt es, systematisch aufzuzeigen, wie facettenreich die heterosexuellen Begegnungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion waren und welche Rolle sie in den Überlegungen der Entscheidungsträger spielten. Die Studie ist trotz der aus sprachlichen Gründen beschränkten Quellenbasis fundiert, ein- und weiterführend, selbstreflektiert und gut lesbar, sodass sie als Standardwerk bezeichnet werden kann. Vereinzelt wünscht man sich eine stärkere Gewichtung der schwer zugänglichen Alltagskommunikation und der Vorstellungsweisen der Soldaten, in denen Behördliches vermutlich wenig zählte. Aber auch für deren Analyse ist und bleibt Mühlhäusers Studie grundlegend.
Zitierweise: Kerstin Bischl über: Regina Mühlhäuser Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion 1941–1945. Hamburg: Hamburger Edition HIS, 2010. ISBN: 978-3-86854-220-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Bischl_Muehlhaeuser_Eroberungen.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Kerstin Bischl. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.