Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau

 

Olga Kucherenko: Little Soldiers. How Soviet Children Went to War, 1941–1945. Oxford: Oxford University Press, 2011. XIII, 266 S., 12 Abb. ISBN: 978-0-19-958555-7.

Kleine Soldaten“ ist Teil eines Trends vor allem unter Historikerinnen, der Geschichte von Kindheit und Kindern eine größere Aufmerksamkeit zu schenken, als dies bisher in der Geschichte Osteuropas der Fall war. Die Studie ist sicher angeregt durch Andrej Tarkovskijs FilmIvans Kindheit, der im Westen mehr Beachtung als in der UdSSR fand. Gegenstand der Monographie sind Kinder und Jugendliche im Alter von etwa zehn bis siebzehn Jahren, die in der Roten Armee, in der sowjetischen Marine und bei den Partisanen während des Zweiten Weltkrieges dienten und kämpften. Ihre Anzahl ist wegen der Fluktuationen und des zumeist halblegalen Status kaum zu schätzen. Die angegebenen Zahlen bewegen sich von 60.000 bis zu 300.000, davon etwa 5.000 Schiffsjungen (jungi), die einzige Gruppe, die als Freiwillige geworben und vereidigt wurde. Im Unterschied zum nationalsozialistischen Volkssturm wurden Jugendliche unter achtzehn Jahren nicht zwangsrekrutiert, auch nicht in die Marine, wo die Schiffsjungen eine systematische Ausbildung erhielten. Die Kinder und Jugendlichen, um die es hier geht, versuchten mit allen Mitteln und Tricks, mit beträchtlicher Energie und Hartnäckigkeit und oft auf den verschlungensten Wegen, bei den bewaffneten Verbänden aufgenommen zu werden (Kap. 7).

Bei den in den Truppen und bei den Partisanen dienenden und manchmal kämpfenden Jugendlichen handelt es sich gewissermaßen umZivilflüchtige. In einer Kombination aus Patriotismus, Abenteuerlust, Rachedurst und Hass (besonders in den besetzten Gebieten) wollten sie dem Hunger, der Not, der Öde und oft auch Unbehaustheit des zivilen Lebens oder auch den zivilen Arbeitseinsätzen entfliehen. Besonders in den besetzten Gebieten handelte es sich zudem oft um Kinder und Jugendliche, die den Zerstörungs- und Vernichtungsaktionen der genozidalen Kriegführung auf deutscher Seite entkommen waren. Die Geschichten dieser Kinder und Jugendlichen, die oft keineswegs begeistert bei den Truppen oder Partisanen aufgenommen wurden, werden manchmal etwas chaotisch in den Kapiteln 5 bis 7 erzählt. Hier geht es auch um die sehr unterschiedlichen Kriegs- und Besatzungserfahrungen, um die unterschiedlichen Funktionen und Aufgaben der Kinder und Jugendlichen in den Truppen. Wenn sie sich in der Logistik, Kommunikation, als Späher und als Hilfskräfte aller Art bewährten, wurden sie durchaus als Mitkämpfende anerkannt, in Uniformen gesteckt und gar nicht so selten ausgezeichnet.

Die Truppeneinheiten oder die Mannschaften auf den Schiffen fungierten oft als Ersatzfamilie, einzelne Soldaten oder Offiziere auch als Ersatzväter und -brüder. Umgekehrt vermittelten die Kinder und Jugendlichen, darunter auch Mädchen, den betreuenden Soldaten und Offizieren eine sonst in der Armee vermissteHäuslichkeitundWärme, die mit den Kindern und Jugendlichen ausgelebt werden konnte. Auf sexuelle Übergriffe fand die Autorin keine Hinweise (S. 177).

Wie bei den sowjetischen Kriegsteilnehmern überhaupt konstatiert die Autorin auch im Falle dieser Kinder und Jugendlichen das aus heutiger Sicht erstaunliche Fehlen anhaltender Traumatisierung (S. 186 ff., 247 ff.). Dass die zeitgenössische Diagnostik diese als solche nicht thematisierte, wird hier nicht weiter problematisiert. Die Autorin argumentiert stattdessen mit der Erziehung und Sozialisation, der die sowjetischen Kinder und Jugendlichen vor allem seit den 1930er Jahren ausgesetzt waren. Diesem Problem sind die Kapitel 1 bis 4 gewidmet. Hier geht es oft zu ausführlich und vielfach Bekanntes kompilierend um die Grundsätze sowjetischer Erziehung, welche die Kinder und Jugendlichen alskleine Erwachsenebehandelte und sie voll in den Aufbau des Sozialismus wie in den Wertehimmel des sowjetischen Patriotismus einbezog. In allen Medien vom Film über das Radio bis zu den Schul- und Kinderbüchern –, in der Schule und den außerschulischen Organisationen, bei den Jungen Pionieren und im Komsomol, und noch in den Ferienlagern seien ihnen die Grundwerte von Sozialismus und Sowjetpatriotismus eingetrichtert worden. Besondere Attraktivität hätten hierbei Geschichten von Kriegshelden, Märtyrern, vorbildhaften Forschern und Entdeckern etc. besessen, denen auch im Spiel und (Wehr-)Sport nachgeeifert worden sei. Damit wurde selbstverständlich auch das dichotomische Bild von der heilen sowjetischen und der feindlichen äußeren Welt mit ihren inneren Agenten vermittelt und wohl auch geglaubt. Dies gelte selbst für Gruppen außerhalb der schulischen, elterlichen oder gar staatlichen Kontrolle: das einzelne Kind oder der einzelne Jugendliche sei alsPersönlichkeitund Teil eines großen Kollektivs definiert und so behandelt worden, mit den entsprechenden Erwartungen seitens der Gesellschaft und den internalisierten Anforderungen an sich selbst. Die Autorin verliert sich manchmal im Panorama der sowjetischen Propaganda,  Indoktrination und Didaktik, manchmal beglaubigt ausgerechnet durch Zeugen wie Lion Feuchtwanger oder Maurice Hindus. The apotheosis of the socialistparadise‘ inspired loyalty to the cause in wartime, when Soviet children received an opportunity to demonstrate their devotion and to fulfil their patriotic duty on the home front or under arms. Having been brought up on the ideals of collective belonging and collective security, many youths felt personal responsibility for the fate of the country.“ (S. 74). Wie dem Zitat zu entnehmen ist, wird eine große Wirkungsmacht der Propaganda und Erziehung auf die Kinder und Jugendlichen unterstellt. Die Autorin sieht diese Wirkungsmacht bestätigt durch die (autobiographischen) Erzählungen. Dabei werden persönliche Motive und Antriebe wie Rache und Hass, Abenteuerlust und Ehrgeiz oder Flucht aus Situationen des Hungers und der Verelendung nicht geleugnet. Es fällt aber auf, dass sich die nachträgliche Selbstdarstellung nahtlos in die Sprache und Stereotype des heroischen Narrativs der Nachkriegszeit einfügt.

Diekleinen Soldaten, so das Fazit der Autorin, sahen sich trotz aller zum Teil schrecklichen Erlebnisse und Ängste und trotz aller Anpassungsschwierigkeiten nach dem Krieg nicht als Opfer sondern als Helden, von ihrem näheren Umfeld wie von der weiteren Gesellschaft als solche anerkannt. Trotz aller Blessuren seien siedankbargegenüber einem Staat (S. 244), der insgesamt so wahrgenommen wird, wie sie es als Kinder gelernt hatten.

Man spürt, dass die Verfasserin sich von der Geschichte derkleinen Soldatengefangen nehmen und es an der professionellen Distanz zu ihrem Gegenstand fehlen lässt. Es werden zwar auch en passant die Schicksale anderer Kinder und Jugendlicher, z.B. derKinder des Gulagerwähnt, aber diese anderen Erfahrungswelten bleiben im Schatten. Die Darstellung erinnert etwas an jene sowjetischen Kriegsfilme, die durch ganz schnelle Einblendungen das Elend des Krieges zeigen, im übrigen aber ungerührt ihre Heldengeschichten erzählen. Es wird nicht gefragt, wie repräsentativ eigentliche diekleinen Soldatenfür ihre Generation gewesen sind. Dass vermutlich eine viel größere Anzahl von Kindern und Jugendlichen Krieg und Besatzung ganz anders erlebt und überstanden habenals Verwahrloste, Kleinkriminelle, psychisch und physisch in vielerlei HinsichtDeformierte“ –, wird nicht problematisiert. Die Autorin folgt, obwohl sie es wohl gar nicht beabsichtigt, doch etwas zu sehr dem sowjetpatriotischen Diskurs und seiner Neubelebung unter Putin.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Olga Kucherenko: Little Soldiers. How Soviet Children Went to War, 1941–1945. Oxford: Oxford University Press, 2011. XIII, 266 S., 12 Abb. ISBN: 978-0-19-958555-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Kucherenko_Little_Soldiers.html (Datum des Seitenbesuchs)

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