Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dietrich Beyrau

 

Jonathan Frankel: Crisis, Revolution, and Russian Jews. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2009. X, 324 S. ISBN: 978-0-521-51364-7.

Kurz vor seinem Tod (7.  Mai 2008) hat Jonathan Frankel, Professor an der Hebräischen Universität von Jerusalem (seit 1964), diesen Sammelband mit eigenen Beiträgen von 1962 bis 2007 zusammengestellt. Er kreist um Themen seiner wichtigsten Monographie „Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism and the Russian Jews, 1862 –1917“ von 1981. Es geht ebenfalls um die Auseinandersetzungen zwischen Sozialismus und Zionismus als den für den russischen Kontext vor 1914 wichtigsten politischen Strömungen innerhalb des Judentums und um die Phasen politischer Orientierung. Frankel subsumiert sie unter der Trias des Traditionalismus, der liberal-emanzipatorischen (nach 1860) und der postliberalen „auto-emanzipatorischen“ Phase nach 1881. Ihn interessieren die Probleme der Assimilation sowie die unterschiedlichen Ausprägungen jüdischer Identität. Nicht zuletzt untersucht er die internationale Politik jüdischer Organisationen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Zwischenkriegszeit hinein.

An den Beiträgen ist erkennbar, dass Frankel, der u.a. bei E. H. Carr in Cambridge studiert hatte, sich als Historiker der Politik- und Ideengeschichte verstand. In der „introduction“ setzt er sich mit dem Vorwurf auseinander, Ideen und politischen Ereignissen eine zu große Wirkung zuzuschreiben, und anderen Faktoren wie den sozialen und ökonomischen Umwälzungen, den Prozessen der Modernisierung und den vielfältigen Optionen jenseits von Politik und vorherrschenden Ideen zu wenig Raum zu lassen. Der Wiederabdruck der ausgewählten Beiträge ist wohl als eine Reaktion auf solche Vorwürfe zu verstehen und als Nachweis, dass er in seinen Methoden und Interessen nicht in den siebziger Jahren stehen geblieben ist. Allerdings hält er an zwei Überzeugungen fest: an der weitreichenden Bedeutung politischer Ereignisse wie der Pogrome von 1881 oder der Revolution von 1905 (mit den sie begleitenden Pogromen) und an der Wirkung von Ideen als „Weichensteller“ für soziales Verhalten und politische Handlungen. „The heady mix of revolutionary utopianism so central for the Russian socialism with the ,redemptionism‘ inherent in the Jewish expectations of emancipation – whether socialist or national or both – proved to be an inexhaustible source of political energy“ (S.  219–220).

Zu seinen „klassischen“ Themen gehört die Untersuchung der ununterbrochenen Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten und Zionisten der jeweils unterschiedlichen Richtungen bis zum Holocaust. Frankel misst ihnen offensichtlich immer noch eine aktuelle Bedeutung zu, obwohl es in der politischen Praxis viele Überschneidungen und Uneindeutigkeiten gab. Er konfrontiert die fast prophetischen Warnungen (1886) vor den konkurrierenden historischen Ansprüchen von Juden und Arabern auf Palästina mit dem zionistischen Argument der „naturgegebenen“ Feindschaft gegen die Juden. Er stellt den universalistischen Ansprüchen liberaler oder sozialistischer Aktivisten das Beharren auf einer nationalen Identität gegenüber. Diese Widersprüche werden sowohl am Beispiel der französischen Revolution, die nur französische Bürger, aber keine Juden anerkennen wollte, als auch am Beispiel der russischen Revolution von 1905 demonstriert, als sich viele Juden enthusiastisch als Bürger Russlands der Revolution verschrieben, nur um als Juden angegriffen zu werden. Diese Probleme werden in Beiträgen zu den politischen Auseinandersetzungen in Russland wie in der Emigration nach 1914 in den USA vorgestellt. Sie sollen vertieft werden um eine subjektive Dimension durch die Analyse von Erzählungen der Schriftsteller S. An-sky und Yosef Haim Brenner; ein Versuch, der mir nicht recht gelungen erscheint. Wenn man Frankel glaubt, reproduzieren diese Erzählungen offenbar nur politische Dispute, ohne ihre subjektive Grundierung erkennen zu lassen. Hier zeigen sich die methodischen Grenzen des Autors. Geglückter erscheint mir ein Aufsatz über ein Gedenkbuch (1911), das an jüdische Wachmänner und Arbeiter erinnerte, die arabischen Gewaltaktionen zum Opfer gefallen sind. An diesem Buch und seiner Zelebrierung von Ehre, Opfer, Heldentod, Blut und Boden zeigt Frankel, wie nahe der Zionismus dem üblichen Nationalismus der Jahrhundertwende und folgender Jahrzehnte stand. Die Kritik des Schriftstellers Brenner an dieser nationalistischen Legendenbildung dient ihm als Orientierung zur „Dekonstruktion“.

Wenn ich es recht sehe, sind jene Beiträge als (seinerzeit) bahnbrechend anzusehen, die sich mit dem internationalen Wirken jüdischer Aktivisten und jüdischer Organisationen seit Gründung der Alliance Universelle Israélite (1860) befassen. Der Assimilation bzw. der Akkulturation der jüdischen Honoratioren in Westeuropa gewann er neue Dimensionen ab. Dem von Traditionalisten und später vor allem von Zionisten erhobenen Vorwürfen gegen die Assimilation als Verrat am Judentum stellt Frankel in mehreren Beiträgen die These entgegen, dass überhaupt erst die Anpassung an die bürgerliche Welt der Nationalstaaten dazu befähigt habe, neue Kommunikationsformen und Netzwerke für die jüdische Sache zu nutzen – in der Regel ging es um Hilfe und Schutz verfolgter und diskriminierter Glaubensbrüder. Am Beispiel der Alliance und später am Beispiel der jüdischen Organisationen vor allem in den USA belegt Frankel, dass Assimilation oder Akkulturation das Engagement für die Glaubensbrüder, eventuell auch die Anerkennung einer Identität über das mosaische Glaubensbekenntnis hinaus, ebenso wenig ausschloss wie die Unterstützung jüdischer Siedlungen in Palästina. Der Zwang zum Manövrieren zwischen den Fronten und den Staaten (seit 1914) wird in eindrucksvoller Weise geschildert. Die Existenz dieser international agierenden jüdischen Organisationen lieferte allerdings auch den Anlass zu den übertriebenen bis wahnhaften Vorstellungen vom jüdischen Einfluss, jüdischer Subversion oder gar jüdischer Weltverschwörung. Dieser Bezug interessierte den Autor aber nicht weiter (S.  146–147).

Ein besonders ausführliches Kapitel ist dem Historiker Simon Dubnow gewidmet. Frankel porträtiert ihn als den wichtigsten Historiker des Judentums nach Heinrich Graetz. Er charakterisiert Dubnows sozialhistorische und – im Falle des Chassidismus – sozialpsychologische Ansätze, und er hebt die „Entdeckung“ der kommunalen und regionalen Selbstorganisation der Juden seit dem Mittelalter durch Dubnow hervor. Sie diente ihm und anderen politischen Aktivisten nach 1905 dazu, neben der rechtlichen Gleichstellung auch (Kultur-)Autonomie für die Juden zu fordern.

Was Frankel nicht weiter thematisiert und offenbar auch nicht als Problem sieht, ist Dubnows Konstruktion der jüdischen Geschichte als Volks- und Nationalgeschichte – in zyklisch-spiralförmigem Kampf gegen die äußere Bedrohung und im Einsatz für die innere moralische Selbstbehauptung, die sich im 19.  Jahrhundert in einem neuen Nationalbewusstsein manifestiere. Obwohl Frankel die Erinnerungen Dubnows kannte, äußert er sich nicht zu dessen Sicht auf die bolschewistischen Juden, die das Konzept einer Nationalgeschichte hätten durcheinander bringen können.

Erst sehr spät hat sich Frankel mit den „nicht-jüdischen“ Juden oder den „Ex-Juden“, wie es in Ungarn hieß, und dem Verhältnis zwischen Juden und Kommunismus beschäftigt (Jonathan Frankel, Dan Diner [eds.]: Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism. Oxford 2004. = Studies in Contemporary Jewry. An Annual, 20). Der ganz der Revolution hingegebene bolschewistische Ex-Jude war ihm zweifellos unsympathisch (S. 12). Den Anlass, sich diesem Thema zu stellen, bot offensichtlich Solschenizyns „Zweihundert Jahre zusammen“. Frankel ließ sich auf dessen Vorwurf ein, dass sich die Juden der Mitverantwortung für die Grausamkeiten des bolschewistischen Regimes entzögen. Wie Solschenizyn sah Frankel offenbar auch die nicht-jüdischen Juden als Teil des Judentums, immerhin eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit in der Auffassung von Nation und Volk. Wenn Israel die positiven Leistungen von Personen jüdischer Herkunft ohne besondere jüdische Identität für sich in Anspruch nehme, so Frankels Argumentation, müsse das auch für Missetaten von Ex-Juden gelten. Daher erörtert er die „Schuldfrage“ mit Verweis auf Jaspers und dessen Unterscheidung zwischen Schuld, (Mit-)Verantwortung und Scham. (Siehe dazu auch A. I. Solženicyn: Dvesti let vmeste. Moskva 2001–2002; siehe ebenso Jonathan Frankel: The „Non-Jewish Jews Revisited: Solzhenitsyn and the Issue of National Guilt, in: Richard Cohen, Jonathan Frankel, Stefani Hoffman (eds.): Insiders and Outsiders. Dilemmas of East European Jewry. Oxford 2010 [= The Littman Library of Jewish Civilization], S. 166–187). Frankel blieb also konsequent in der Sicht auf die jüdische Geschichte als Nationalgeschichte. Insofern verweigerte er sich offenbar den neueren Ansätzen der „postzionistischen“ Historiographie.

Dietrich Beyrau, Tübingen

Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Jonathan Frankel: Crisis, Revolution, and Russian Jews. Cambridge, New York [usw.]: Cambridge University Press, 2009. X, 324 S. ISBN: 978-0-521-51364-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Frankel_Crises_Revolution_and_Russian_Jews.html (Datum des Seitenbesuchs)

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