Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 2 (2012), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Dietrich Beyrau
Marc Junge [u.a.] (sost.) „Čerez trupy na blago naroda“. „Kulackaja operacija“ v Ukrainskoj SSR 1937–1941 gg. [„Für das Wohl des Volkes über Leichen gehen“. Die „Kulakenoperation“ in der Ukrainischen Sowjetrepublik, 1937–1941].
Bd. 1: 1937. Podgotovka prikaza No. 00447, pervyj ėtap „Kulackoj operacii“. [1937. Die Vorbereitung des Befehls Nr. 00447. Die erste Etappe der „Kulakenoperation“]. 744 S.
Bd. 2: 1938–1941 gg. Vtoroj ėtap repressij. Zaveršenie bol’šogo terrora i vosstanovlenie „socialističeskoj zakonnosti“. [1938–1941. Die zweite Etappe der Repressionen. Der Höhepunkt des Großen Terrors und die Wiederherstellung der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“]. 712 S. Moskva: Germanskij Istoričeskij Institut; Rossijskaja Politiceskaja Enciklopedija 2010. ISBN: 978-5-8243-1407-6.
Die vorliegende Dokumentation ist Teil eines sehr umfangreichen Forschungsprojektes, das in den letzten Jahren von einem Team deutscher und russischer Historiker unter Leitung von Bernd Bonwetsch, bis 2009 Leiter des DHI in Moskau, durchgeführt worden ist. Es geht um den „großen Terror“ 1937/38 und hier speziell um den operativen Befehl (prikaz) 00447 vom 30. Juli 1937, um sein Zustandekommen und seine Umsetzung durch die „Organe“ vor Ort. Aus dem Forschungsprojekt sind eine Reihe von Aufsätzen, Sammelbänden und Dokumentationen hervorgegangen, die alle um dieses Thema kreisen. (Die Publikationen bis 2009: Rolf Binner / Bernd Bonwetsch / Marc Junge Massenmord und Lagerhaft. Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin 2009, S. 12 und 13, Anm. 8–12 sowie Rolf Binner / Bernd Bonwetsch / Marc Junge (Hg.) Stalinismus in der sowjetischen Provinz 1937–1938. Die Massenaktion aufgrund des operativen Befehls 00447. Berlin 2010.) Die deutsche Ausgabe „Massenmord und Lagerhaft“ und der zuvor bereits erschienene parallele russische Band (Mark Junge / Gennadij Bordjugov / Rol’f Binner Vertikal bol’sogo terrora. Istorija operacii po prikazu NKVD No. 00447, Moskva 2008) beziehen sich auf die gesamte Sowjetunion. Die hier zu besprechende Dokumentation konzentriert sich hingegen ausschließlich auf die Ukraine. Sie ist ähnlich aufgebaut wie die Dokumentation „Massenmord und Lagerhaft“. Die einzelnen Kapitel enthalten jeweils ausführliche Texte der Autoren, in der Regel mehr als bloße Kommentare, gefolgt von der Dokumentation.
Auch dieser Band führt ein in die Entstehungsgeschichte des Befehls 00447 (Bd. 1, Kap. 1 und Bd. 2, Kap. 9); dann geht er anhand der Berichterstattung der verschiedenen Instanzen auf die Umsetzung des Befehls vor Ort ein (Bd. 1 Kap. 2–5 für das Jahr 1937, Bd. 2, Kap. 2–6 für das Jahr 1938). Des weiteren werden das Ende der Operationen, Ansätze von Kritik von verschiedenen Seiten und die Rehabilitation eines sehr kleinen Teils der Opfer 1939 und 1940 behandelt (Bd. 2, Kap. 7–8). Ein eigenes Kapitel ist den speziell gegen die ehemaligen Kulaken gerichteten Aktionen gewidmet. Sie haben dem Befehl 00447 eigentlich ihren Namen gegeben (Bd. 2, Kap. 10). Zum Schluss werden einige Überlegungen zu den Ursachen der Repressalien angestellt.
Die Dokumentation bestätigt einmal mehr die Hypothese, dass dieser Befehl wie andere Repressalien offensichtlich „oben“ ausgebrütet und initiiert worden ist, aber die Ausgestaltung, das Ausmaß wie die Verfolgungspraktiken verdankten sich der Interaktion zwischen den Vorgaben des Kreml und den zivilen, vor allem aber den politischen und polizeilichen Instanzen vor Ort. Dies gilt in besonderer Weise für den Umfang der Repressalien, für die Häufigkeit der Verhängung der Todesstrafe oder der Verurteilung zu Lagerhaft und nicht zuletzt für die Erweiterung der ins Visier genommenen Bevölkerungsgruppen unter der Rubrik „andere antisowjetische Elemente“. Hier fällt die Verschiebung des Schwerpunkts der Operationen auf. Waren zuerst in der Ukraine wie auch anderswo neben den ehemaligen Kulaken Kriminelle und Angehörige von Randgruppen eine der zentralen Zielgruppen von Strafaktionen, so traten an ihre Stelle 1938 vor allem Angehörige der nationalen Minderheiten und Ausländer.
Besondere Aufmerksamkeit zollt der Band den außerordentlichen Instanzen, die in die Aktionen involviert waren: den lokalen Dreiergremien (trojki) des NKVD wie der Miliz, letztere zuständig vor allem für Kriminelle und Randgruppen, und nicht zuletzt den mobilen Einsatzgruppen des Militärkollegiums des Obersten Gerichts. Diese Instanzen führten im wesentlichen die Vorermittlungen durch, die Verhöre, wenn sie denn überhaupt stattfanden, und sie verkündeten die Urteile. Je nach Opferkategorie waren auch Parteiinstanzen, lokale Sowjets, etwa durch ihre amtlichen Beurteilungen (charakteristika), oder auch Bürger mit ihren Denunziationen an der Auswahl der Opfer beteiligt. Ende 1938 wurde auffällig oft beklagt, dass die „Agentur“, d. h. die systematische Bespitzelung und die entsprechende Information der Gremien, nur schlecht oder unzureichend funktioniert habe. Vor allem bei ehemaligen Kulaken und (Klein-)Kriminellen war von Bedeutung, ob sie durch Flucht aus den Lagern oder Verbannungsgebieten auffällig geworden waren. Wie bei den Kriminellen spielte auch eine Rolle, ob sie zuvor – in Lagern, Verbannungsgebieten oder sonstwo – aktenkundig geworden waren. Neben den Angehörigen von Minderheiten in oft sehr weit gefassten Definitionen von „Grenzgebieten“ fielen auch Gläubige und Geistliche (cerkovniki, sektanty), angebliche oder tatsächliche ukrainische Nationalisten und nicht zuletzt Angehörige seit langem verbotener oder aufgelöster Parteien und der weißen Armee unter die Kategorie „antisowjetische Elemente“. Bei letzteren Gruppen konnte manchmal als Rechtfertigung für ihre Bestrafung oder Ermordung angeführt werden, dass sie einen schlechten Einfluss auf die bevorstehenden Sowjetwahlen nehmen könnten (Bd. 1, S. 206 f, S. 252, 264, Bd. 2, S. 553). Diese gelegentlichen Hinweise bestätigen allerdings nicht, wie die Autoren betonen, die Thesen J. A. Gettys und anderer über einen kausalen Zusammenhang zwischen den Wahlen zu den Sowjets und den Repressalien ‚aus Angst‘ vor dem möglichen Einfluss antibolschewistischer Kräfte (Bd. 1, S. 58).
Besonders verdienstvoll ist das statistische Material, das hier für die Ukraine zusammengetragen wird. Anhand der „limity“, der Quoten, wie anhand der Zuordnung der Opfer zu den Kategorien 1 (Todesstrafe) und 2 (Lagerhaft) wird der Aushandlungsprozess zwischen dem Zentrum und den Provinzen sehr deutlich. Zugleich geben die Statistiken Auskunft über die „Kategorie“, das soziale Profil der Opfer und die Arbeitsplätze, denen sie entrissen wurden; sie geben Auskunft über die verurteilenden Instanzen, über den Zeitablauf und die geographische Verteilung der Opfer in der Ukraine.
Der wohl interessanteste Teil der Dokumentation betrifft aus meiner Sicht die Praktiken bei der Auswahl der Opfer wie die der Voruntersuchungen, der Verhöre, sofern sie stattfanden, und der Aburteilungen. Man hätte sich, sofern vorhanden und zugänglich, die Präsentation von noch mehr Einzelfällen gewünscht. Hier werden anhand von Rehabilitationsgesuchen zwei „Fälle“ vorgeführt – der des Kulaken I. P. Demjanovskij und der des griechischen Kleinkriminellen A. V. Papakica (Bd. 2 Kap. 5).
Wir wissen aus den Zeugenberichten und Erinnerungen der Opfer – zumeist von Angehörigen der Intelligenz – ungefähr, was Verhöre, unterschiedliche Arten von Erpressung und Folter und nicht zuletzt, was die Fließbandverfahren bedeuteten. Hier wird nun die Sicht der Täter dokumentiert. Wie die Autoren betonen, verblüfft, dass trotz „vereinfachter Verfahren“ und oft genug auch „kurzer Prozesse“ selbst die sog. Massenoperationen nach Maßgabe bürokratischer Regeln der Dokumentation und Beglaubigung durchgeführt wurden. Dies betraf die behördliche Erfassung, polizeiliche Vorermittlung und Untersuchung, wohl eher selten auch Verhörprotokolle, und Urteile. Vor allem die Phase der Verunsicherung und vereinzelt der Selbstkritik in Parteiversammlungen der Tschekisten seit dem Herbst 1938 liefert eine Vielzahl von Hinweisen sowohl auf die Verfahrenspraktiken als auch auf die Einstellungen, Verhaltensweisen und Verhaltenszwänge der beteiligten Akteure in den lokalen Behörden des NKVD (siehe bes. Bd. 2, Kap. 7). Das Spektrum der Aussagen reicht vom Druck, der von oben ausgeübt worden sei, über Klagen wegen Erschöpfung und Überforderung durch die Massenoperationen bis zum Eingeständnis der Fälschung von Aussagen, der Anwendung von Erpressungstechniken, von Prügeln – „viehischen Verhören“ (Bd. 2, S. 474) – und Folter. Bei den Massenoperationen reichte offenbar die Zugehörigkeit zu einer der stigmatisierten Gruppen, um serienweise und in Gruppen abgeurteilt zu werden. Es fand eine Art Wettbewerb zwischen den Verfolgungsinstanzen statt um die Anzahl und Schnelligkeit der Verurteilungen, manchmal auch um die Anzahl der Todesurteile, die „massenhaft“ (kompanejski) ‚erledigt‘ wurden: „arestovat’ i razmotat’“ lässt sich als Motto für diese Verfahren festhalten (Bd. 2, S. 449). Man hat Leute „kühn ins Jenseits befördert, die dort nicht hingehörten“ (Bd. 2, S. 454). In den Parteiversammlungen der lokalen Behörden des NKVD koexistierten sehr unterschiedliche politisch-moralische Einstellungen zu den Repressalien: Einerseits sei die Gesellschaft noch längst nicht hinreichend von Feinden und Schädlingen gesäubert (Bd. 2, S. 410, 441, 446), andererseits galten die soeben beendeten Operationen als eine „feindliche Aktion“ (vražeskoe delo), die „mit unseren Händen“ und mit „faschistischen Methoden“ durchgeführt worden sei. Auffällig sind auch hier die Wirkung von Verschwörungstheorien und die Annahme einer allumfassenden Unterwanderung auch des NKVD (Bd. 2, S. 451, 454). Soweit es um Schuldvorwürfe ging, verstand es sich fast von selbst, dass die abgesetzten Spitzenfunktionäre, in der Ukraine also die abgesetzten und später umgebrachten Volkskommissare des Innern, I. M. Leplevskij und A. I. Uspenskij, die Vorgänger Chruščevs, verantwortlich gemacht wurden für Fehlentwicklungen und interne Schädlingstätigkeit.
Das merkwürdigerweise ans Ende gesetzte Kapitel über die Verfolgung der ehemaligen Kulaken (Bd. 2, Kap. 10) geht ausführlich auf die hier besonders involvierten Dreiergremien (trojki) der lokalen Behörden des NKVD ein. Solche Dreiergremien hatten mit gelegentlichen Unterbrechungen seit dem Bürgerkrieg als außerordentliche Verfolgungsinstanzen gedient. Sie machten in der Regel „kurzen Prozess“. Ihre Arbeit und ihre Verfahren werden im Dokumentenband „Massenmord …“ noch ausführlicher dokumentiert.
Diese wie die anderen Dokumentenbände des Projekts sind mehr mit den Verfahren und Verfolgungspraktiken nach dem Befehl 00447 als mit den weiteren Ursachen befasst. Die Vorgaben aus Moskau und ihre Umsetzung vor Ort lassen offenbar keine eindeutigen Aussagen zu. In den „Ergänzungen“ (Bd. 2, Kap. 9) werden Dokumente abgedruckt, die, soweit sie aus den Jahren 1936 und 1937 stammen, auf die ausufernden Feindmarkierungen der 1930er Jahre verweisen. Ohne dass dies explizit gesagt wird, sollen diese Dokumente wohl den Kontext verdeutlichen, aus dem die Massenoperationen 1937 und 1938 hervorgegangen sind. Aber auch sie liefern keine Erklärung für die Grunde, näheren Umstände und Anstöße für die Repressalien nach dem Befehl 00447. Der ursächliche Zusammenhang mit der neuen Konstitution und den Sowjetwahlen wie die These von der „Prophylaxe“, welche das Potential einer 5. Kolonne im bevorstehenden Krieg ausschalten sollte, wird als Ursache wie als Motivation der Täter verworfen (B. 2, S. 601 f). Wenn überhaupt gelte die These von einer Prophylaxe für den Fall eines Krieges höchstens für die Repressalien gegen Angehörige der Minderheiten und gegen Ausländer (Bd. 2, S. 22, 119, 564 ff). Der empirische und ausschließlich auf die hier präsentierten Quellen fixierte Blick lässt keine Aussagen zu über den weiteren Kontext. Er begründet wohl auch den Verzicht auf weitergehende Hypothesen. Die Autoren begnügen sich mit der Deutung der Massenoperationen als Höhepunkt des Wahns zur prophylaktischen Säuberung der Gesellschaft. Im Sinne Zygmunt Baumans, der aber nicht zitiert wird, können sie bestenfalls in einer solchen wahnhaften sozialen Prophylaxe „den Sinn“ des Befehls 00447 erkennen. Zudem wird eher nebenbei auf die Eigendynamik und die ‚Kollateralschäden‘ der Repressalien verwiesen. Diese sollen aber keineswegs als aus dem Ruder gelaufen angesehen werden (Bd. 1, S. 13 ff, Bd. 2, S. 598 ff).
Es ist für sich genommen schon ein bemerkenswertes Ergebnis, dass auch eine so intensive Beschäftigung mit dem Befehl 00447 und eine so ausführliche Dokumentation Aussagen über Verfahren und Mechanismen, aber keine Aussagen über lang- und kurzfristige Ursachen und über die Motive der Täter erlauben soll.
Dietrich Beyrau, Tübingen
Zitierweise: Dietrich Beyrau über: Marc Junge [u.a.] (sost.) „Čerez trupy na blago naroda“. „Kulackaja operacija“ v Ukrainskoj SSR 1937–1941 gg. [„Für das Wohl des Volkes über Leichen gehen“. Die „Kulakenoperation“ in der Ukrainischen Sowjetrepublik, 1937–1941]. Bd. 1: 1937. Podgotovka prikaza No. 00447, pervyj ėtap „Kulackoj operacii“. [1937. Die Vorbereitung des Befehls Nr. 00447. Die erste Etappe der „Kulakenoperation“]. 744 S. Bd. 2: 1938–1941 gg. Vtoroj ėtap repressij. Zaveršenie bol’šogo terrora i vosstanovlenie „socialističeskoj zakonnosti“. [1938–1941. Die zweite Etappe der Repressionen. Der Höhepunkt des Großen Terrors und die Wiederherstellung der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“]. 712 S. Moskva: Germanskij Istoričeskij Institut; Rossijskaja Politiceskaja Enciklopedija 2010. ISBN: 978-5-8243-1407-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Beyrau_Cerez _trupy.html (Datum des Seitenbesuchs)
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