Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Jan Behrends
Kul’tury gorodov Rossijskoj imperii na rubeže XIX–XX vekov – Urban Cultures in the Russian Empire at the Turn of the Centuries. Materialy meždunarodnogo kollokviuma, Sankt-Peterburg, 14–17 ijunja 2004 goda – Proceedings of an International Colloquium, St. Petersburg, June 14–17, 2004. Sost. Mark D. Stejnberg i Boris I. Kolonickij – Edited by Mark D. Steinberg and Boris I. Kolonickij. S.-Peterburg: Evropejskij dom, 2009. 427 S. ISBN: 978-5-8015-0255-7.
Der vorliegende Band dokumentiert eine internationale Tagung zur Geschichte der Stadt im russischen Imperium, die im Juni 2004 in St. Petersburg stattfand und an der Forschende aus Russland, Nordamerika, Westeuropa und Deutschland teilnahmen. Sowohl die Vorträge als auch die Diskussionen sämtlicher sechs Sektionen sind im vorliegenden Band abgedruckt, wobei die Dokumentation der mündlichen Beiträge einen beträchtlichen Raum einnimmt. Die abgedruckten Aufsätze sind in der Regel noch dem Stil des mündlichen Vortrags verpflichtet, so dass sich vor dem Auge des Lesers ein Protokoll der Veranstaltung entfaltet. Der Fokus liegt auf der Kulturgeschichte der russischen Stadt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert; es werden sowohl St. Petersburg und Moskau als auch zahlreiche Provinzstädte behandelt. Der Band betrachtet das vorrevolutionäre Russland als multiethnisches Imperium und zeigt, dass der imperial turn auch in der Stadtgeschichte neue Perspektiven eröffnet. Neben dieser breiten Perspektive auf die Zentren des Russischen Reiches bemühen sich die Herausgeber, ein Konzept des urbanen Raumes vorzustellen, das die kulturgeschichtliche Perspektive auf Urbanität an die Strukturen der Städte koppelt. Das Buch ist dem Andenken des Sozialhistorikers Reginald Zelnik aus Berkeley gewidmet, der 2004 auf dem Campus der Universität verunglückte.
Der erste Abschnitt der Konferenz beschäftigte sich mit dem Wandel von Identitäten in der modernen Stadt. Babara Engel beschrieb das Schicksal der Migrantin Evdokija Kulikova zwischen ländlicher Herkunft und urbaner Existenz. V. A. Nardova beschäftigte sich mit dem Status des „Ehrenbürgers“ im vorrevolutionären Russland und Julia Obertreis erklärte den Bedeutungswandel von kul’turnost’ und den Hygienediskurs im Leningrad der zwanziger Jahre. Die zweite Sektion versammelt Beiträge zur Erinnerung an die imperiale Stadt. Er enthält einen Aufsatz von Sergej A. Mezin zur Erinnerung der kulturellen Eliten an das Leben in Saratov und von Mark Steinberg über die „schwarzen Masken“ des vorrevolutionären Petersburgs und die Konstruktion einer russischen Erzählung über die Moderne, die er aus der Boulevardpresse der Metropole destilliert. Katarina Clark zeigt, wie russische Schriftsteller die Metapher „Babylon“ zur Umschreibung ihrer Metropolen benutzten und wie das Moskau Stalins im Kontrast zu westlichen Städten als sozialistisches „Anti-Babylon“ beschrieben wurde. Die dritte Sektion bestand schließlich aus Beiträgen zur Kulturgeschichte des urbanen Raumes. B. V. Anan’ič und A V. Kobak gingen dem Einfluss der internationalen Gartenstadtbewegung im Russischen Reich und in der frühen Sowjetunion auf den Grund. Am Beispiel der Gastauftritte des Dirigenten Sergej Kusevickij an der Wolga reflektierte Karl Schlögel über die Beziehungen zwischen Hauptstädten und Provinz in den Jahren vor der Revolution. Er verwies darauf, wie die russische Moderne durch den imperialen Raum geformt wurde. Anna Suchorukova besprach die Möglichkeiten der munizipalen Selbstverwaltung bei der architektonischen Gestaltung St. Petersburgs. Schließlich analysierte A. N. Zorin das Verhältnis zwischen Bevölkerung und Raum in der russischen Provinz, und Ljudmila Bechtereva beschließt die erste Hälfte des Bandes mit einem Beitrag über die Arbeitersiedlungen im Ural.
Den Auftakt zur vierten Sektion, die sich mit den Städten des Imperiums befasste, bildet ein Beitrag von Jeff Sahadeo über das „russische“ Taschkent und die Zivilisierungsmission zarischer Eliten in Turkestan zwischen 1905–1914. Anschließend trug A. E. Ivanov zur Entwicklung der Universitäten des Reiches vor, und Elena Dubrovskaja beschrieb die angespannte Situation in Helsingfors (Helsinki) zwischen Frühjahr und Sommer des Jahres 1917. Salavat Ischakov umriss in seinem Aufsatz die städtische Kultur der Muslime im Russischen Reich; dabei konzentrierte er sich auf Turkestan, Tartarstan, die Krim und den Kaukasus. Die folgende fünfte Tagungssektion thematisierte die Kultur marginalisierter Gruppen in der Stadt. Sie wurde von einem Vortrag I. V. Gerasimovs über ethnische Kriminalität in Odessa eingeleitet. Er betonte die Erfolge sozialer Selbstorganisation in der Dekade zwischen der Revolution von 1905 und dem Ersten Weltkrieg. Anschließend erklärte Hubertus F. Jahn, wie die Armen St. Petersburgs zur Projektionsfläche sozialer Veränderung wurden, und verwies in seinem Vortrag auf Kontinuitäten aus der Frühmoderne und auf die aktuelle Dimension der Thematik. Louise McReynolds erläuterte die Rolle des Mordes im modernen urbanen Narrativ und A. N. Kurcev analysierte das Schicksal der Flüchtlinge während des Ersten Weltkrieges in den Städten des Imperiums. Das letzte Panel der Tagung rückte schließlich die Entwicklung der Zivilgesellschaft im vorrevolutionären Russland ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Elena Apkamirova sprach über die Rolle orthodoxer Gemeinschaften in den Städten des Urals und Joseph Bradley beschrieb den Entstehungsprozess des polytechnischen Museums in Moskau. A. S. Tumanova widmete sich dem Milieu, in dem gesellschaftliche Organisationen im Zarenreich entstanden und operierten. Die Kursker Historikerin Irina Kosichina beschrieb die Rolle, die zivilgesellschaftliche Organisationen zum Ende des Zarenreiches in ihrer Heimatstadt spielten. Im Anschluss an die jeweiligen Vorträge lässt sich die Diskussion auf der Tagung nachvollziehen; leider fehlt am Ende des Bandes eine übergreifende Schlussdiskussion beziehungsweise eine Synthese der Herausgeber.
Im Vorwort betonen die Herausgeber, dass es ihr Anliegen sei, dazustellen, wie in den Zentren des russischen Imperiums die Moderne erlebt wurde, wie ihre Bewohner versuchten die moderne Erfahrung zu gestalten. Dies lässt sich hier an zahlreichen Beispielen nachvollziehen – der Band beleuchtet das beeindruckende Panorama imperialer Urbanität, das die Jahre vor 1914 charakterisierte. Durch seinen protokollarischen Stil zeigt er zugleich die Fruchtbarkeit internationalen Austausches zu den großen Themen der russischen Geschichte, ohne die die methodologische Innovation und inhaltliche Breite so nicht denkbar wäre.
Zitierweise: Jan Behrends über: Kul’tury gorodov Rossijskoj imperii na rubeže XIX–XX vekov – Urban Cultures in the Russian Empire at the Turn of the Centuries. Materialy meždunarodnogo kollokviuma, Sankt-Peterburg, 14–17 ijunja 2004 goda – Proceedings of an International Colloquium, St. Petersburg, June 14–17, 2004. Sost. Mark D. Stejnberg i Boris I. Kolonickij – Edited by Mark D. Steinberg and Boris I. Kolonickij. S.-Peterburg: Evropejskij dom, 2009. ISBN: 978-5-8015-0255-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Behrends_Steinberg_Kultury_gorodov.html (Datum des Seitenbesuchs)
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