Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Christoph Augustynowicz

 

Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Ditzingen: Reclam, 2010. 256 S. = Reclams Universal-Bibliothek, 18729. ISBN: 978-3-15-018729-6.

Seit dem Unabhängigkeitsprozess in der Ukraine in den Jahren um 1990 erschien eine regelrechte Flut von Überblicken zur Geschichte des Landes. Die Ergebnisse dieses Trends wurden von einem breiten Publikum mit regem Interesse aufgenommen: Allein Andreas KappelersKleine Geschichte der Ukrainewurde im Jahr 2009 zum dritten Mal, Paul Robert MagocsisA History of Ukraine. The Land and Its Peoplesim Jahr 2010 zum zweiten Mal in der Paperback-Ausgabe aufgelegt.

Hinsichtlich womöglich aufkommender Zweifel, welchem Zweck eine weitere Synthese zur Geschichte der Ukraine denn dienen könnte, überzeugt die vorliegende Arbeit rasch. Schon die nicht ausschließlich nach chronologischen Gesichtspunkten vorgenommene Gliederung setzt erfrischende Schwerpunkte: Zwar gliedern die Kapitel 4 bis 14 die Landesgeschichte in einem durchaus orthodoxen, dem Verständnis förderlichen Durchlauf von der slawischen Landnahme über die Teilfürstentümer, die polnisch-litauische Zeit, die Kosakenzeit, die russländische und habsburgische Herrschaft, weiter über Ersten Weltkrieg und Zwischenkriegszeit, sowie sowjetische Herrschaft und Zweiten Weltkrieg bis hin zur staatlichen Unabhängigkeit. Diese Kapitel sind aber eingerahmt von heranführenden, stärker thematisch argumentierenden Abschnitten zur so genannten Orangen Revolution, zu Erinnerungskulturen und äußerst konzise zu Staatssymbolen (Kapitel 1 bis 3) einerseits, sowie zu Traumagedächtnis und Opfermythos, konkret zu Hunger (Holodomor) und Reaktorunglück (Čornobyl) in Kapitel 15 und zu ethnischer Heterogenität mit regionalem Augenmerk auf die Krim in Kapitel 16 andererseits. Mit diesen beiden Kapiteln exponiert die Autorin geschickt ihre eigenen Forschungsschwerpunkte.

Ausgesprochen positiv fällt in aspektueller Hinsicht daher die breite Heranführung an das Geflecht aus politischen, sozialen, aber auch kulturellen und ökonomischen Faktoren auf. In räumlicher Hinsicht gelingt trotz der gebotenen Kürze anhand von Schlaglichtern beispielsweise aus englischen, französischen oder US-amerikanischen Diskursen eine national übergeordnete Perspektive: Sei es eher essayistisch durch Herausarbeitung eines Aufstands- und Umverteilungsmythos mittels Heranführung der Figur Robin Hoods an Bohdan Chmelnicki (S. 94), sei es methodisch stärker fundiert durch Reflexion der Nationalisierung von Bauern in Kontrast zu dem von Eugen Weber aufgestellten Motto „Peasants into Frenchmen“ (S. 107) oder sei es durch Einblendung von Susan Sontags Idee eines „Memory Museum“ in die Diskussion um die ukrainische Erinnerungskultur hinsichtlich der eigenen Opfer(rolle) (S. 235). Auch Historiographiegeschichte und Geschichtspolitik sind mit Hilfe exemplarischer Eindrücke laufend in die Darstellung eingewoben, seien diese akademisch oder populärkulturell, seien sie historiographisch oder belletristisch; intermediale Aspekte hin zu Musik und Film werden ebenfalls breit eingebunden.

Umso bedauerlicher ist der Entschluss des Verlages, ein Kapitel zur Literaturgeschichte nicht in den Band aufzunehmen (vgl. S. 9), beweist doch die Autorin eindrücklich ihre entsprechende Kompetenz. Nicht weniger bedauerlich ist, dass die überaus bewegte und auch räumlich bewegliche Geschichte der Ukraine lediglich an Landkarten zur Kiever Rus, zum 19. Jahrhundert sowie zu einzelnen Aspekten des 20. Jahrhunderts (Zweiter Weltkrieg, Unabhängigkeit) veranschaulicht wird. Die Zeit der polnisch-litauischen Herrschaft, also gerade die Zeit, welche die ethno-konfessionelle innere Heterogenität der Ukraine hervorbrachte (Union von Brest) und als eine der historischen Projektionsflächen ukrainischer Souveränität fungiert (Kosakenmythos), bleibt unabgebildet. Auffällig ist ferner die eher impressionistisch gehaltene Kultur der Informationsnachweise: Hier werden Autorinnen und Autoren zwar namentlich genannt und zitiert, aber ihre Zitate sind nicht weiter ausgewiesen, dort werden bibliographische Positionen ganz wissenschaftlich streng in Fußnoten zitiert. Schließlich würde ein Register zumindest der verwendeten Personennamen den inhaltlichen Zugang weiter erleichtern.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es der Autorin mit der vorliegenden Arbeit auf überaus knappem Raum gelingt, die beiden zentralen Aufgaben grundlegender historischer Überblicksdarstellungen zu erfüllen: Sie fasst zum einen zusammen und sie leitet zum anderen ansie gibt Antworten und sie hilft, Fragen zu stellen.

Christoph Augustynowicz, Wien

Zitierweise: Christoph Augustynowicz über: Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Ditzingen: Reclam, 2010. 256 S. = Reclams Universal-Bibliothek, 18729. ISBN: 978-3-15-018729-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Augustynowicz_Jobst_Geschichte_der_Ukraine.html (Datum des Seitenbesuchs)

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