Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jan-Hinnerk Antons

 

After the Holodomor. The Enduring impact of the Great Famine on Ukraine Ed. by Andrea Graziosi / Lubomyr A. Hajda / Halyna Hryn. Cambridge, MA: Harvard Ukrainian Research Institute, 2013. XXXVIII, 276 S., Graph. = Harvard Ukrainian Studies 30 (2008) No. 1-4. ISSN: 0363-5570.

Die Harvard Ukrainian Studies widmen sich häufig speziellen Themen der ukrainischen Geschichte in Sonderbänden, die mehrere Ausgaben umfassen. Der vorliegende Band After the Holodomor. The Enduring impact of the Great Famine on Ukraine ist ein solcher Sonderband, der den ganzen Jahrgang 2008 umfasst. Mit diesem impliziten Strukturwechsel von Fachzeitschrift zu Schriftenreihe lässt sich auch das späte Erscheinungsdatum (2013) erklären. Es handelt sich hier um einen Konferenzband, der HURI-Konferenz The Holodomor and Its Consequences, 1933 to the Present, die zur 75. Jährung der großen Hungerkatastrophe veranstaltet wurde. Neben ausgewählten Konferenzbeiträgen haben auch einige zusätzliche Artikel den Weg in das Buch gefunden. Während die Konferenz noch zwischen short-, medium- und long-term consequences unterschied, ist in der Veröffentlichung nur noch eine Zweiteilung in kurz- und langfristige Folgen zu finden. Um es gleich vorwegzunehmen: Trotz dieser Konzeption behandeln die 13 Beiträge durchaus nicht nur die Folgen, sondern auch die schrecklichen Ereignisse selbst.

Als Ausgangspunkt ihres Anliegens verweisen die Herausgeber des Bandes Andrea Grazioli, Lubomyr A. Hayda und Halyna Hryn auf die Bemerkung von James Mace, die ukrainische und kasachische Geschichte nach 1933 müsse als Geschichte post-genozidaler Gesellschaften untersucht werden. In dieser Formulierung ist bereits eine Stellungnahme zu einer der kontroversesten Fragen der Osteuropäischen Geschichte enthalten. Denn ob die vom stalinistischen Regime in eine Katastrophe ungeheuren Ausmaßes verwandelte Hungersnot tatsächlich auf einer Tötungsabsicht gegen das ukrainische Volk beruhte und damit als Genozid zu bezeichnen ist, oder sich allein gegen die Bauernschaft als Gegner der Kollektivierungspolitik richtete, bleibt nicht nur unter explizit politischen Akteuren, sondern auch unter Historikern heftig umstritten. Auch wenn diese Frage in einem Band zu den Folgen der Hungersnot keinen primären Fokus bildet, kommt kaum ein Autor umhin, sich zu ihr zu positionieren. Die Herausgeber versuchen in ihrem Vorwort den konkurrierenden Definitionen von Genozid Rechnung zu tragen, indem sie von „multiple genocides, or quasi-genocides [in the USSR], of which the Holodomor is the epitome“ (S. XXIV), sprechen.

Als direkte Folge der Kontroversität des Themas ist ein extensiver Bezug auf die Quellen zu beobachten. Viele der Autoren widmen sich ausführlich der Quellenlage und zitieren reichlich aus ihrem Fundus. Neben den dreizehn Beiträgen und der Einleitung enthält der Band die keynote address der Konferenz von Nicolaus Werth als Rekapitulation des Forschungsstandes sowie zwei ebenfalls der Konferenz entstammende Kommentare. Die keynote address ist insofern besonders bemerkenswert, als Werth sein früheres Urteil über die Motivation der stalinschen Hungerpolitik darin revidiert. Während er im Black Book of Communism (1999) noch die ukrainische Bauernschaft als Hauptziel der Aushungerung ausmachte, sieht er nun im Lichte neuer Quellen und neuer Argumente eine qualitative Spezifizität des ukrainischen Falles und unterstützt die Genozid-These.

Im ersten Teil zu den kurzfristigen Folgen widmen sich zwei Beiträge der polnischen Perspektive. Während Robert Kuśnierz lediglich konstatiert, welche bereits bekannten Sachverhalte auch aus polnischen Archivalien rekonstruiert werden können, zeigt Roman Wysocki, welche Informationen 1932/33 in der polnischen Gesellschaft kursierten und wie jene auf diese reagierte. Er legt überzeugend dar, dass die geostrategischen Interessen der polnischen Machthaber wenig Platz für die Sorgen der ethnischen Minderheit der fünf Millionen Ukrainer oder humanitäre Erwägungen ließen. Die materiellen Hilfsaktionen der Westukrainer seien zudem an der Ablehnung der sowjetischen Autoritäten gescheitert und ihre Protestbewegung habe aufgrund interner Zerstrittenheit keinen langen Atem gehabt. Den ukrainischen Kontext betreffend betrachtet Stanislav Kul’­chyt­skyi die Hungersnot im Rahmen der sowjetischen Agrarpolitik und sieht Stalins Motiv in der Verhinderung einer sozialen Explosion in der Ukraine. Yuri Shapoval und Hen­na­di Yefimenko betonen, ähnlich argumentierend, eine Kontinuität der anti-ukrainischen Politik des Kremls und kontextualisieren den Holodomor als Teil der Nationalitätenpolitik und Prolog des Großen Terrors. Eine Gegenposition nimmt Brian J. Boeck ein, der eine Lokalstudie zur kosakischen Siedlung Poltavskaja im Kubangebiet liefert. Er kritisiert an der bisherigen Forschung, dass die Angaben der sowjetischen Führung zu den Erfolgen der Ukrainisierung im Kubangebiet im berühmten Dekret vom 14. Dezember 1932 nicht hinterfragt worden seien. Die anti-ukrainische Dimension der Hungersnot im Kubangebiet könne nicht negiert werden, sei aber auch nicht exklusiv zu setzen. Hunger sei dort auch ohne die nationalitätenpolitischen Zielsetzungen als Kampfmittel gegen die Bevölkerung eingesetzt worden, um den „stubborn struggle between state and society“ (S. 43) um die Getreiderequisitionen zu entscheiden. Einem erfrischenden mentalitätsgeschichtlichen Ansatz folgend, untersucht Sergei Maskudov die Auswirkungen der stalinistischen Zwangs- und Gewaltpolitik auf die Moralvorstellungen der Bevölkerung und ihre Haltung gegenüber der Obrigkeit. Als Ergebnis attestiert er ein orwellsches doublethink, eine mit Bewunderung gepaarte tödliche Angst des Sowjetmenschen vor den Autoritäten. Die traditionelle Arbeitsmoral der Bauern habe sich in eine Kultur der Arbeitsvermeidung gewandelt, Passivität und Verweigerung von Verantwortlichkeit seien zum Standard geworden. Schließlich habe der Verlust von Selbstrespekt und Respekt vor anderen den Großen Terror erst ermöglicht. Kulchytskyi sieht den Moralverlust gar als Ursache für einen an den südlichen Frontabschnitten geringen Widerstand gegen die deutsche Invasion 1941.

Mit einer Analyse der Erinnerung an die große Hungersnot unter der deutschen Besatzung von Karel C. Berkhoff beginnt der zweite Teil zu den langfristigen Folgen. Unter der Besatzung habe erstmals offen über die Hungerjahre gesprochen und geschrieben werden können; häufig sei dies mit antisemitischen Implikationen geschehen. Allerdings gehen Berkhoffs Einschätzungen aufgrund der dünnen Quellenlage zuweilen nicht über Mutmaßungen hinaus. Konzeptionell etwas aus der Reihe fällt der Beitrag von Oleksandra Veselova, die als Historikerin und Zeitzeugin von der Hungersnot in der Ukraine 1946/47 berichtet und im abschließenden knappen Vergleich mit dem „Holodomor“ ebenfalls politische Entscheidungen verantwortlich macht, aber geringere Ausmaße und andere Motive beschreibt. Der Archivar und Historiker Henadii Boriak widmet sich ganz der Quellenlage, indem er einerseits die Bevölkerungsverluste betreffende Bestände aufzeigt und andererseits die Zerstörung beweiskräftiger ukrainischer Archiveinheiten durch die sowjetische Führung belegt. Er schlussfolgert nachvollziehbar, dass das Bild, welches sich Historiker vom „Holodomor“ machen können, von Stalin geprägt sei. Seine zweite These betrifft die Genozid-Debatte: „Following the repression of the Ukrainian peasantry and national elites, the destruction of archives became the third, final, and absolutely logical action of what should be called genocide.“ Warum allein das Vertuschen eines allseits anerkannten Verbrechens dessen genozidale Intention belegen soll, bleibt dabei unklar. Inhaltlich befassen sich die Demographen France Meslé, Jaques Vallin und Evgeny Andreev mit den Bevölkerungsverlusten. Nach der Präsentation ihrer bekannten Ergebnisse zu den direkten Verlusten (2002) rechnen sie die Auswirkungen bis zur Gegenwart weiter und setzen sie in Relation zu den Bevölkerungsverlusten durch den Zweiten Weltkrieg und andere demographische Einschnitte. Valeriy Vasylyev untersucht die Wahrnehmung der Katastrophe von 1932/33 durch die sowjetukrainische Führung der fünfziger bis achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts, die, so sein erstes Ergebnis, die Hungernot aus eigener Anschauung in den Jugendjahren kannte. Ab Mitte 1956 habe sie aber alle Hinweise auf die Hungerkatastrophe aus offiziellen Dokumenten verbannt und trotz der beharrlichen Informationskampagnen der ukrainischen Diaspora alles versucht, um die Verbreitung von Informationen sowohl innerhalb der ukrainischen Gesellschaft als auch in internationalem Rahmen zu verhindern. Zum Schluss liefert Volodymyr Dibrova einen essayistischen Aufsatz über die Rolle der zeitgenössischen ukrainischen Schriftsteller im kollektiven Verarbeitungsprozess. Beinahe polemisierend konstatiert er eine Fokussierung der postsowjetischen ukrainischen Literatur auf die Themen Sex und Zugehörigkeit zum Westen. Die Unwilligkeit, sich der Vergangenheit zu stellen, sei die Folge eines kollektiven Traumas, welches immer noch schwer auf der ukrainischen Gesellschaft laste. Die aktuellen politischen Probleme der Ukraine wie „the pervasive corruption, erratic behavior of its political leaders, and inconsistent linguistic and nation-building policies“ auf die Hungerkatastrophe von 1932/33 zurückzuführen (S. 265), ohne irgendwelche Begründungen für diese Einschätzung zu liefern, ist allerdings auch für einen Linguisten etwas zu weit entfernt von einem nachvollziehbaren historischen Urteil. Nichtsdestotrotz werden in diesem stilistisch ansprechenden Beitrag Gedanken formuliert und Fragen aufgeworfen, die der historischen Forschung neue Perspektiven eröffnen können.

Den Sammelband in seiner Gänze betrachtend, erweist sich die bescheidene Zielsetzung der Herausgeber als sinnvoll: Zur Lösung (nicht weiter definierter) Probleme der ukrainischen Geschichte beizutragen, neue Fragen aufzuwerfen, und zusätzliches Licht auf die Folgen der Hungerkatastrophe von 1932/33 zu werfen. Die Integration der Ereignisse in die sowjetische Nationalitäten- und Kollektivierungspolitik sowie den Großen Terror kann uns zu neuen Erkenntnissen führen, auch wenn hier zuweilen die Absicht der Rechtfertigung der Genozid-These im Wege steht. Besonders interessant machen den Band aber die interdisziplinären und kulturgeschichtlichen Ansätze, die tatsächlich neue Fragestellungen und Gedanken in die Untersuchung der Ukraine als „post-genozidaler“ Gesellschaft einbringen, ohne sich dabei an der Genozid-Frage abzuarbeiten.

Jan-Hinnerk Antons, Hamburg

Zitierweise: Jan-Hinnerk Antons über: After the Holodomor. The Enduring impact of the Great Famine on Ukraine Ed. by Andrea Graziosi / Lubomyr A. Hajda / Halyna Hryn. Cambridge, MA: Harvard Ukrainian Research Institute, 2013. XXXVIII, 276 S., Graph. = Harvard Ukrainian Studies 30 (2008) No. 1-4. ISSN: 0363-5570, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Antons_SR_After_the_Holodomor.html (Datum des Seitenbesuchs)

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