Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lilia Antipow

 

Tat’jana Marčenko: Russkie pisateli i Nobelevskaja premija (1901–1955) [Russische Schriftsteller und der Literaturnobelpreis (1901–1955)]. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007. 626 S. = Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 55. ISBN: 978-3-412-14006-9.

Am 10.  Dezember 1933 versammelten sich im prächtig geschmückten Konzerthaus der schwedischen Hauptstadt Stockholm Mitglieder der Königsfamilie, Angehörige des Königshofes, Vertreter des diplomatischen Korps sowie der politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Elite Schwedens. Den Anlass für die Zusammenkunft eines derart hoch angesehenen Publikums war die wieder anstehende Aushändigung des Nobelpreises an die Preisträger. Einer von ihnen war in jenem Jahr Ivan Alekse­evič Bunin.

Bunin war der erste russische Schriftsteller, der den Nobelpreis für Literatur bekam. Doch er war nicht die einzige literarische Größe Russlands, die bis dahin für diesen Preis nominiert worden war. Die „Nobelpreisschicksale“ von Lev Tolstoj, Dmitrij Merežkovskij, Maksim Gor’kij, Ivan Šmelev, Ivan Bunin, Mark Aldanov und Peter Krasnov sind das Thema des vorliegenden Buches. Sein umfangreichstes Kapitel ist verständlicherweise Ivan Bunin gewidmet, dem einzigen russischen Schriftsteller, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Nobelpreis für Literatur tatsächlich erhielt.

Marčenkos Buch belässt es jedoch nicht bei diesem Thema. Die Autorin weitet ihre Fragestellung auf den Bereich der interkulturellen Beziehungen zwischen Russland und Schweden beziehungsweise zwischen Russland und Europa aus. Die Positionen und Stellungnahmen der Gutachter und Mitglieder des Nobelpreiskomitees werden von Marčenko als eine Art „Lackmustest“ für die Wahrnehmung der russischen Literatur und des „Russentums“ (russkost’) in Schweden durch Träger einer „schwedischen Mentalität“ betrachtet. Tat’jana Marčenkos Studie ist das Ergebnis umfassender Recherchen, vor allem in den Archiven des Nobelpreiskomitees der schwedischen Akademie der Wissenschaften. Ihre deskriptiven Seiten sind zugleich ihre stärksten – jene Seiten, auf denen die Autorin die Geschichte der Nominierung der russischen Schriftsteller rekonstruiert, wobei sie mit feinsinnigen Beobachtungen zu Persönlichkeit und Schaffen der einzelnen Kandidaten (zum Beispiel Ivan Šmelevs) aufwartet, die sie mit einer Liebe zum Detail und zur faktographischen Dichte verbindet.

Doch der Versuch, die „Nobelpreisgeschichte“ der russischen Schriftsteller als ein Dokument der interkulturellen Kommunikation zwischen Russland und Schweden zu interpretieren, erweckt den Eindruck, als erliege Marčenko dabei der Macht eines nationalen, ja nationalistischen Diskurses, der sich in Russland in jüngster Zeit zunehmend auch der Geschichtswissenschaft bemächtigt. Gemeint ist jene Spielart des nationalen Konservatismus, die auf eine messianische „russische Idee“ und einen starken Staat setzt und in der Einstellung „des“ Westens zu Russland permanent „Feindseligkeit“ vermutet. Zentrale Begriffe der Autorin sind keine wissenschaftlichen Kategorien, sondern eher Versatzstücke einer nationalen oder nationalistischen Imagologie. Jedenfalls wahrt sie keine nüchtern-kühle Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Sie operiert wie selbstverständlich mit Begriffen wie „russische Mentalität“ (S.  201), attestiert Bunin eine „echte russische Seele“ (S. 488) und sieht in Gor’kijs „Kindheit“ den „wilden russischen Freiheitsgeist“ (russkaja vol’nica) am Werke. Im Vergleich mit der „russischen Mentalität“ kann die „schwedische Mentalität“ (S. 469) nur verlieren. Die Schweden seien „provinziell“ (S. 588), hätten kein leidenschaftliches Temperament (S. 102), seien „gefühlskalt“ (S. 119), selbst wenn sie „an der Riviera logierten“ (S. 435), und überhaupt dächten sie mehr über ihren „Sommerurlaub“ nach (S. 160) als über „erhabene“ und „ernste“ Dinge. Darüber hinaus seien „die“ Schweden „konservativ“ und „Träger eines bourgeoisen Geistes“ (S. 261). Was könne man, so scheint die Autorin dem Leser suggerieren zu wollen, vom Gutachter des Nobelpreiskomitees für slawische Literaturen, Anton Kalgren, an Verständnis für Russland und die russische Literatur schon erwarten, wo er doch Protestant sei? Nicht minder seltsam mutet die Bemerkung der Autorin über den Schriftsteller Oscar Levertin an, den sie als Juden freispricht von dem angeblich für „alle Schweden“ typischen „verletzten Nationalgefühl“, was ihr Verhältnis zu Russland betreffe (S. 109).

Problematisch wird das Verfahren vor allem dort, wo Marčenko von konkreten Personen in ihrer Funktion als Gutachter und Komiteemitglieder abstrahiert und sie an anderer Stelle des Buches unversehens mit einem nicht näher definierten „Westen“ (S. 136, 160) oder einem ebenso abstrakt bleibenden „Europa“ (S. 165) gleichsetzt. Als Erklärung für die Haltung des Nobelpreiskomitees zu den russischen Schriftstellern wird dann – zwar nicht ausschließlich, aber immer wieder – ein grundsätzliches, ein „angeborenes“ Missverständnis gegenüber dem „Russentum“ in Schweden, eine „Fremdheit“ der „russischen Mentalität“ für die „schwedische Mentalität“, ein permanenter russisch-schwedischer „Antagonismus“ bemüht, der angeblich seit dem XVIII. Jahrhundert, das heißt seit Peter dem Großen, bestehe. Er sei einer der Gründe für die Ablehnung Tolstojs (S. 109), Merežkovskijs (S. 125, 133135), Gor’kijs (S. 197, 201, 452) oder Šmelevs (S. 283) bei der Vergabe des Nobelpreises gewesen. Umgekehrt, so Marčenko, habe Bunin den Gutachtern und Mitgliedern des Nobelpreiskomitees mit seiner negativen Sicht auf Russland imponiert (S. 391, 452). Die Ablehnung eines russischen Schriftstellers als Preiskandidat wird von Marčenko stets nicht nur als ein Beschluss über eine konkrete Person, sondern ebenso als nationale Entscheidung gesehen, die gegen Russland als nationale Gemeinschaft gerichtet gewesen sei: Die „Beschlüsse des Nobelpreiskomitees verströmten jahrzehntelang einen Geist der Feindseligkeit gegenüber Russland“ (S. 109), so die Autorin, und im Falle Merežkovskij spricht sie sogar von einem „antirussischen Ausfall“ (antirusskij vypad) des Komiteegutachters Jensen (S. 125126). Generell gelte, dass nur das jeweilige „Nationalbewusstsein“ (nacional’noe soznanie) in die Lage versetze, die „heimatliche Literatur“ (rodnaja literatura) „angemessen“ zu bewerten (S. 75); das Verstehen von Bunins literarischer Welt sei für „alle schwer“, die nicht mit ihr (gemeint ist: der „russischen Welt“) „durch Blutsbande“ verbunden seien (S. 391); was generalisiert und im Umkehrschluss heißt: Ein angeborenes „Russentum“ ist Vorbedingung für ein adäquates Verständnis der russischen Literatur; oder noch genereller: Für das „westliche Bewusstsein“ seien „Russland“ und der „russische Nationalcharakter“ schlichtweg „unbegreiflich“ (S. 109)!

Andererseits kann der Leser Marčenkos Ausführungen auch entnehmen, dass Merežkovskij keineswegs nur wegen seines „Russentums“ den Nobelpreis nicht bekam; die Hauptgründe andere waren (S. 162). Und das das ausschlaggebende Moment für die Preisverleihung an Bunin waren nicht seine „antirussischen“ Äußerungen, sondern die hohe Bewertung seines künstlerischen Könnens war, die Tatsache, dass er die „Traditionen des klassischen russischen Realismus“ fortsetzte (S. 69). Was das „angeborene“ Russentum als Vorbedingung für ein „Verstehen“ der russischen Literatur angeht, so ist damit nicht recht in Einklang zu bringen, dass Lev Tolstoj, wie Marčenko an anderer Stelle selbst berichtet, in bestimmten Kreisen der russischen Öffentlichkeit weder verstanden noch anerkannt wurde (S. 108). Schließlich stellt sich die Frage, von welcher grundsätzlichen Animosität zwischen dem „europäischen Westen“ und dem „russischen Osten“ die Rede sein kann, wenn Vertreter der schwedischen Kulturelite Widerspruch gegen die Ablehnung des Nobelpreiskandidaten Tolstoj einlegten (S. 93); wenn „westliche“ Schriftsteller und Gelehrte russische Autoren mehrfach für den prestigeträchtigen Preis vorschlugen (S. 48, 96, 148); wenn „westliche“ Slavisten eine beachtliche Nobelpreis-Kampagne für Bunin auf die Beine stellten (S. 349362); wenn russische Schriftsteller, selbst solche, die sich wie Merežkovskij eines negativen Urteils über das „Russentum“ nicht verdächtig gemacht hatten (S. 207), bei Lesern aus der intellektuellen Elite und der Mittelschicht des nämlichen „Westens“ auf Zuspruch stießen.

Vermutlich hätte man die (zweifellos vorhandenen) Grenzen der Wahrnehmung und des „Verstehens“ der russischen Schriftsteller bei den schwedischen Gutachtern in ihrer politischen und kulturellen Bedingtheit durch eine genauere Analyse ihres Russland-Bildes aufzeigen können, ohne Exkurse in das Gebiet der nationalen Metaphysik zu unternehmen und mit Pauschalkonstruktionen der nationalen Mythologie – wie einer „angeborenen Unterschiedlichkeit“, einer „Fremdheit“ und sogar „Feindseligkeit“ zwischen „russischer “ und „schwedischer Mentalität“ – zu operieren, wodurch das Problem des „Nicht-Verstehens“ beziehungsweise des „Missverstehens“ der russischen Literatur in Schweden aus einem Problem der politischen Orientierung, der politischen Interessen und der kulturellen Sozialisation zu einem Problem „primordial“ verstandener Nationalität wird. Auf der Suche nach einer Erklärung dafür, warum ein russischer Schriftsteller beim westeuropäischen Lesepublikum nicht ankam, hätte es nahegelegen, den literarischen Markt, die zeitgenössischen Diskurse und die Leseinteressen in den einzelnen europäischen Ländern genauer unter die Lupe zu nehmen. Schade, dass dies nicht geschehen ist, weil das Grundanliegen des Buches durchaus Beachtung verdient als Versuch, den Leser für die kulturelle Rolle der russischen Literatur und der russischen Schriftsteller in den (west)europäischen Ländern zu sensibilisieren, und den übertriebenen „Eurozentrismus“ ihrer kulturellen Institute wobei Europa mit dessen Westen gleichgesetzt wird zu problematisieren.

Lilia Antipow, Erlangen

Zitierweise: Lilia Antipow über: Tat’jana Marčenko: Russkie pisateli i Nobelevskaja premija (1901–1955) [Russische Schriftsteller und der Literaturnobelpreis (1901–1955)]. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2007. 626 S. = Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. Reihe A: Slavistische Forschungen, 55. ISBN: 978-3-412-14006-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Antipow_Marcenko_Russkie_pisateli.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2012 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Lilia Antipow. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.