Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Manfred Alexander
Zwischen Graetz und Dubnow: Jüdische Historiographie in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von François Guesnet. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 2009. 297 S. = Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-931982-60-7.
Auf den ersten Blick scheint der Inhalt des Buches eine Auseinandersetzung mit jüdischen Historikern zu sein, die zeitlich zwischen dem Erscheinen der „Geschichte der Juden“ von Graetz (Leipzig u.a. 1833–1876) und Dubnows „Weltgeschichte des jüdischen Volkes“ (seit 1901) anzusiedeln wären; erst das Vorwort macht deutlich, dass die hier publizierten Vorträge einer Tagung vom Jahre 2005 auf das jüdische Selbstverständnis zielten und jüdische Geschichtsbetrachtung in einem geographischen Raum behandeln. Auf der einen Seite steht nämlich Graetz, der der deutschen Tradition verbunden war und das Judentum als eine Religionsgemeinschaft in enger Verbindung mit und im Leiden unter der jeweiligen christlichen Mehrheitsgesellschaft verstand, auf der anderen – jedoch eher sporadisch dargestellt – der hauptsächlich russisch schreibende Dubnow, der aus der Sicht des Zarenreiches das Überleben der Juden als ‚nationale Gruppe‘ in der Geschichte ihrer Gemeindeorganisation beschrieb. Zwei Großkulturen und Großreiche in ihrer Wirkung auf die ‚Zwischenregion‘ Ostmitteleuropa stehen so im Zentrum der Überlegungen, die als „Invokationen zweier ikonischer Figuren der jüdischen Geschichtsschreibung“ (S. 7) gewissermaßen als Brückenpfeiler für die folgenden Überlegungen dienen. „Ostmitteleuropa“ erscheint zwischen Deutschland und Russland als ein „verflochtener Geschichtsraum“ im „Kontext einer Pluralität von Kulturen“ (S. 11), in der eine Vielzahl von konkurrierenden Geschichtsdeutungen anzutreffen ist. Nimmt man dazu noch die Modernisierung der Gesellschaften seit der Aufklärung und das Aufkommen des Nationalismus im 19. Jahrhundert als allgemeine Probleme, sowie das Streben der Juden nach bürgerlicher Gleichberechtigung als spezifisches Problem einer jeden konkreten Gesellschaft, so ist der Rahmen abgesteckt, in dem die Vorträge zu der Tagung in Potsdam (und drei weitere für diesen Band eingebrachte Aufsätze) im wesentlichen angesiedelt sind.
Der erste Aufsatz von Louise Hecht behandelt die Stellung der Juden in Böhmen, die in der national aufgeladenen Konkurrenz zwischen der deutschsprachigen und der tschechischen Gesellschaft standen; aus einem allgemeinen Überblick leitet die Verfasserin zu einer kurzen Analyse einer von Markus/Meir Fischer gefälschten Chronik („Ramschak“) über, die die landespatriotische Einstellung der Juden und ihre Affinität zum tschechischen Ethnikum in der Vergangenheit beweisen sollte. Danach beschreibt Carsten Schapkow die Geschichtskonstruktion von Graetz, der in der sefardischen Tradition der Juden im Zusammenleben mit Nichtjuden in Spanien einen Gipfel der jüdischen Kultur in der galut („Exil“) gesehen hat und der Entwicklung der aschkenasischen Juden in Osteuropa ein tiefes Misstrauen entgegenbrachte; die jiddische Sprache dort hat er geradezu als „Gelalle“ diffamiert (S. 79).
Im Zentrum der weiteren Betrachtung stehen dann jüdische Historiker (und Journalisten) aus Polen und Ungarn. Heidemarie Petersen beschreibt die Rezeption der Arbeiten von Graetz in Ungarn, wo in der Wissenschaft und Publizistik eine jüdisch-ungarische Symbiose beschworen wurde, zu diesem Zweck aber auch die Übersetzung von Graetz’ Werken „schöpferisch“ durchgeführt wurde. Kerstin Armbrost-Weihs untersucht die Zusammenarbeit zwischen den polnischen jüdischen Historikern Bałaban, Schorr und Schiper mit Dubnow für die Zeitschrift „Evrejskaja starina“; einerseits wurde hier wertvolle Quellenarbeit geleistet, andererseits durchdrang der Streit in der Bewertung der Stellung der Juden in der Adelsrepublik und (nach den Teilungen Polens) im Zarenreich die Kooperation. Der Herausgeber selbst steuert einen Beitrag über den jüdischen Historiker und Journalisten Ezriel Nathan Frenk bei, der mit seinen volkstümlichen Publikationen in jiddischer und hebräischer Sprache die Geschichtskenntnis seiner Glaubensgenossen verbessern wollte. In die polnisch-jüdische Wissenschaftsgeschichte führt der (externe) Beitrag von Natalia Alaksiun ein, die das Wirken des führenden jüdischen Historikers Bałaban in Warschau und die Karriere seiner Schüler beschreibt, bis der Holocaust dieser fruchtbaren Tätigkeit ein grausiges Ende setzte.
Der eher national orientierten Betrachtung der jüdischen Geschichte setzt Cornelia Aust eine Betonung der Wirtschaftsgeschichte entgegen, indem sie nach Überlegungen zu den Stereotypen über den jüdischen Handel die Rolle der „Hofjuden“ im vormodernen absolutistischen Herrschaftssystem betont und zu einer Vertiefung von Studien über die „Netzwerke“ der führenden jüdischen Familien in Europa aufruft. Zwei Quelleneditionen, die Gemeindeordnungen (takkanot) von Hamburg-Altona und Krakau betreffend, widmet Stefan Litt seinen Beitrag; die Quellen über die Gemeindeselbstverwaltung ergeben zwar wenig Informationen zur jüdischen Geschichte insgesamt, aber dafür vieles zum Alltagsleben und zum Bemühen, die alten religiösen Regeln an moderne Verhältnisse anzupassen. In die Zeit vor den Zweiten Weltkrieg führt der Aufsatz von Guy Miron, in dem dieser die Erfahrung der ungarischen Juden darstellt, die ihrer demonstrativen Ungarntreue zum Trotz seit 1937 zunehmend einer Ausgrenzung und Diffamierung ausgesetzt waren. Den Abschluss bildet die bis in die Gegenwart reichende Ausführung von Krzysztof A. Makowski über die Geschichte der Juden in Posen, die von Polen und Deutschen, von polnisch und deutsch orientierten Juden in ihren Urteilen oft widersprüchlich dargestellt wurde; gemeinsam war diesen Darstellungen aber, das sie zumeist weniger von den Quellen als von nationalen Wertungen ausgingen, unbequeme Tatsachen oft verschwiegen und quer zu den nationalen Orientierungen „hoch ideologisch aufgeladen“ (S. 282) waren. Diese kritischen und hilfreichen Bemerkungen verdienen eine besondere Aufmerksamkeit.
Zwar ist der Titel des Sammelwerkes nicht überzeugend und der leitende Gedanke der Aufsatzsammlung manchmal von den mitgeteilten Fakten überlagert, doch bietet der Band einen eindrucksvollen Überblick über verschiedene Richtungen der jüdischen Historiographie, die in sich so vielfältig und widersprüchlich ist wie die Geschichte der Juden selbst. Eine Korrektur verdient das Personenregister, das den Geistlichen Artur Rhode (so S. 278) mit seinem Sohn und Osteuropahistoriker Gotthold Rhode verwechselt.
Manfred Alexander, Köln
Zitierweise: Manfred Alexander über: Zwischen Graetz und Dubnow: Jüdische Historiographie in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von François Guesnet. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt, 2009. 297 S. = Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-931982-60-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Alexander_Guesnet_Zwischen_Graetz_und_Dubnow.html (Datum des Seitenbesuchs)
© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Manfred Alexander. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de
Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.
Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.