Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Verfasst von: Manfred Alexander
Böhmen und das Deutsche Reich. Ideen- und Kulturtransfer im Vergleich (13.–16. Jahrhundert). Herausgegeben von Eva Schlotheuber und Hubertus Seibert. München: R. Oldenbourg Verlag, 2009. VIII, 360 S., 81 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 116. ISBN: 978-3-486-59147-7.
Der Sammelband enthält die (manchmal erweiterten) Vorträge einer Tagung von 2007 in München unter dem Thema des Buches. In drei Sektionen stellten damals junge Wissenschaftler aus Tschechien, Deutschland, Österreich und den USA ihre Forschungen vor, die entweder zu Dissertationen hinführen sollten oder solche bereits zusammenfassten. Der Zeitraum umfasst im Wesentlichen die Herrschaftsjahre des römischen Kaisers und böhmischen und deutschen Königs Karl IV. und seines Sohnes Wenzel aus der Familie der Luxemburger, die in besonderer Weise europäisch eingebunden waren. So lädt diese Zeit zu einer Betrachtung des „Kulturtransfers“ geradezu ein, der hier in den Bereichen „Herrschaft und kultureller Austausch“, „Schriftlichkeit und Repräsentation“, sowie „Architektur und Wandmalerei“ zum Gegenstand der Betrachtung geworden ist. Das Ergebnis ist eine Sammlung von Texten, die von eher grundsätzlichen Themen wie dem Verhältnis von Architektur und Herrschaftskonzeption bis zur Untersuchung von Steuerlisten reicht und sich damit einer Zusammenfassung entzieht. Festzuhalten ist, dass die – in der Mehrzahl jungen tschechischen – Wissenschaftler jeweils eine umfassende Bibliographie zu ihrem Thema beifügen und damit insbesondere den Stand der tschechischen Forschung dokumentieren.
Problematisch ist der Band aber wegen eines Mangels an Reflexion seitens der Herausgeber, der sich in zwei Bereichen zeigt: Der Inhalt des Bandes wird durch den Titel „Böhmen und das Deutsche Reich“ nicht repräsentiert; denn eigentlich hat alles nur mit Böhmen oder den böhmischen Königen zu tun; was „Deutsches Reich“ im Rahmen des römischen Kaiserreiches damals bedeutete, wird nicht ausgeführt, prägte aber in der Kombination aller drei Ebenen die Herrschaftsauffassung von Karl IV. in besonderer Weise. Karl lässt sich wegen seiner Sprach- und Länderkenntnis, die Luxemburg, Frankreich, Italien, Böhmen und die heutigen deutschen Länder umfasste, nicht einseitig auf ‚nationale Kulturen‘ festlegen; er war geradezu prädestiniert, europäische Kultur zu vertreten, und geriet deshalb auch mit seinem Denken in Konflikt mit den böhmischen Ständen. Die im Titel suggerierte bilaterale Beziehung deckt also den Inhalt des Bandes nicht.
Der zweite Bereich, der zu Kritik einlädt, ist der Begriff „Kulturtransfer“. Gemeint ist das Lernen von anderen Kulturen, die „Rezeption neuer Ideen, manueller Fähigkeiten und kultureller Errungenschaften, die von einem Kulturraum in einen anderen transferiert und dort aufgenommen, aneignend kopiert oder verwandelt werden“ (S. 1). Das ist aber in der Geschichte etwas völlig Normales; die Kulturen Europas – seien sie ethnisch oder durch regionale Faktoren bestimmt – leben vom Austausch, auch vom Austausch mit außereuropäischen Vorbildern, die jeweils eingeschmolzen wurden, so dass ein „Mischprodukt“ (S. 3) – was immer das sein mag – entstehen konnte. Auch in diesem Punkte ist der Titel nicht präzis, denn die Vorbilder lagen meist in Frankreich, und nur im Vergleich der Steuerlisten und der Wirkung der Werke von Lucas Cranach kommen deutsche Vorbilder zum Vorschein.
Was gemeint ist, kann an zwei Aufsätzen kurz aufgezeigt werden: Bernd Carqué beschreibt, wie Architekturmerkmale (der Bau der „Allerheiligenkapelle“ in der Burg Karlstein) und Rituale der Herrschaft bei ihrer Übernahme aus Frankreich im böhmischen Umfeld einen völlig anderen Charakter annahmen, weil die Vorstellung von der Sakralität der französischen Könige in die böhmische Tradition nicht einzubetten war. Der Verfasser konstatiert schließlich, dass von einem „Kulturtransfer“ gar nicht gesprochen werden könne, sondern eher von einem „Einfluss“, der die böhmische Tradition auf seine Weise bereicherte (S. 62). In ähnlicher Weise kann der Bau von Burgen durch Karl und Wenzel verstanden werden, weil sich darin ihre Herrschaftsauffassung widerspiegelte, unabhängig vom konkreten Vorbild des Papstpalastes von Avignon. Ganz konkret kann Jan Royt das „Lernen“ an einem schönen Beispiel zeigen, als der letzten Bischof von Prag (vor der Rangerhöhung zum Erzbistum) Johannes von Draschitz den Baumeister der Brücke von Avignon nach Böhmen einlud, um in Raudnitz eine steinerne Brücke zu planen und die böhmischen Baumeister so in diese Kunst einzuführen, dass die Brücke nach ihrer Fertigstellung dem Hochwasser von 1342 standhielt (S. 271–272).
Unabhängig von diesen grundsätzlichen Einwänden ist der Band voll von Einsichten in die böhmischen Kulturgeschichte – die Architektur, die Malerei, die Musik und Texte über die Vorläufer von Jan Hus betreffend –, die von den Übersetzern mustergültig ins Deutsche übertragen worden sind; man muss sie dort nur suchen wollen.
Manfred Alexander, Köln
Zitierweise: Manfred Alexander über: Böhmen und das Deutsche Reich. Ideen- und Kulturtransfer im Vergleich (13.–16. Jahrhundert). Herausgegeben von Eva Schlotheuber und Hubertus Seibert. München: R. Oldenbourg Verlag, 2009. VIII, 360 S., 81 Abb. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 116. ISBN: 978-3-486-59147-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Alexander_Boehmen_und_das_Deutsche_Reich.html (Datum des Seitenbesuchs)
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