Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), 4, S. 604-605

Verfasst von: Ulrike von Hirschhausen

 

Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires 1908–1918. Cambridge, New York, Melbourne [usw.]: Cambridge University Press, 2011. XIV, 303 S., 5 Ktn., 25 Abb. ISBN: 978-0-521-14916-7.

Empires areon. So trivial ließe sich ein Trend beschreiben, der nicht nur die populäre Literatur erreicht hat, wie die heftige Kontroverse um den RomanImperiumdes Schweizer Bestsellerautors Christian Kracht jüngst gezeigt hat. Auch der historische Sach- und Fachbuchmarkt erscheint derzeit von einem imperial turn gekennzeichnet, dessen Entwicklung dieAmerican Historical Review“ jüngst nachzeichnete (117 [2012], 3). Seinen Grund hat dieses Interesse primär in der Erfahrung von Globalisierung, der Notwendigkeit supranationaler Integration jenseits des Nationalstaats und der Wirkung postkolonialer Studien. All diese Faktoren haben dem Empire, als Begriff wie als historischer Ordnung, die von Vielfalt und Ungleichheit geprägt ist, eine neue Aufmerksamkeit gesichert.

In dieses Forschungsfeld lässt sich auch die Studie des in Princeton lehrenden Nahostexperten Michael Reynolds einordnen, der mitShattering Empiresden Zusammenbruch des Osmanischen und des Russischen Reichs zwischen 1908 und 1918 in den Blick nimmt. Als Beispiel für die Interaktion zwischen beiden Empires hat er Grenzräume ausgewählt, nämlich den Kaukasus und das östliche Anatolien, wo die imperiale Kontrolle der Zentren sich abgeschwächt hatte und ein dichter Verkehr von Ideen, Menschen oder Gütern die ohnehin schwach ausgebildeten imperialen Grenzen noch poröser machte. Die Wahl des Zeitraums begründet Reynolds mit der frappanten Differenz zwischen den hochfliegenden politischen und wirtschaftlichen Erwartungen, die in beiden Empires nach den innenpolitischen Zäsuren der Jungtürkischen Revolution und des russischen Oktobermanifests einsetzten, und den zerstörerischen Erfahrungen in den Gesellschaften beider Empires am Ende des Ersten Weltkriegs. Welche Erklärung lässt sich für diese Parallelen finden? Bislang suggeriere die fast gleichzeitige Erosion der Empires, so Reynolds, dass der gemeinsame Grund für den Untergang in innenpolitischen Konflikten, ethnisch konfiguriert im osmanischen Fall, eher politisch gefärbt im russischen Fall, gelegen habe. Hier setzt der Autor an und stellt die These auf, es sei vor allem der interimperiale Konflikt zwischen den beiden Mächten gewesen, der zu ihrem Ende beigetragen habe. Diese These versucht er in acht diachronen Kapiteln zu entfalten.

Die Rivalität der Herrschaftsstrategien will Reynolds zunächst im östlichen Anatolien greifbar machen. Hier trennten tendenziell eher Klasse und Wirtschaftsweise zwischen nomadischen, muslimischen Kurden und sesshaften, christlichen Armeniern; doch mit dem Export nationaler Ideen in die Region brachten beide Empires die Gruppen gegenseitig in Stellung. Vor und während des Ersten Weltkriegs begrenzten beide Regierungen ihre Suche nach Bündnispartnern nicht auf konfessionell passende Gruppen, sondern agierten flexibel und strategisch, indem osmanische Beamte mit Georgiern und Ukrainern zusammenarbeiteten, während die Russen auch Muslime für ihre Zwecke instrumentalisierten. Das kontinuierliche Argument Reynolds, weniger ethnische Ressentiments als strategische Machtinteressen hätten zum Konflikt geführt, exemplifiziert er auch am Beispiel des Genozids an den Armeniern, den er als radikale Durchsetzung des staatlichen Anspruchs deutet, dass ethnische Besiedelung mit staatlichen Grenzen deckungsgleich sein müssten. Mit dem Empire als state actor begründet Reynolds auch die Entstehung neuer Staaten wie Georgien, Armenien und Aserbaidschan, die weniger ein Resultat indigener Nationalismen im Kaukasus als vielmehr das Ergebnis interstaatlicher Rivalität gewesen seien.

Das Anliegen der Studie, Empires nicht mehr isoliert zu sehen, sondern gerade in ihrer interimperialen Konkurrenz und Verflechtung zu untersuchen, jenen imperial intersections, wie Burbank und Cooper diese Tendenz in ihrem 2011 erschienen PanoramaEmpires in World Historygenannt haben (Jane Burbank / Frederick Cooper: Empires in World History. Power and the Politics of Difference. Princeton, NJ, 2010), ist einleuchtend und überzeugend. Die Durchführung bleibt dagegen enttäuschend. Reynolds diachron angeordnete Kapitel handeln ihre Gegenstände durchweg faktographisch ab und lassen übergreifende, strukturelle Thesen vermissen. Sein Argument, staatliche Interessen seien stärker als nationale Motive gewesen, wird nicht überzeugend belegt, die gewählten Räume bleiben als Laboratorien von nationalen Experimenten oder Massenmobilisierung seltsam blass, und beim Leser setzt sich der Eindruck fest, eine klassische, durchweg staatsorientierte Politikgeschichte, verkleidet im modischen Gewand der Empires, gelesen zu haben.

Ganz anders hat vor einigen Jahren der in Washington lehrende Aviel Roshwald das Potential des Vergleichs für den gleichen Zeitraum und nahezu dieselben Akteure ausgelotet. Im scharfen Gegensatz zu Reynolds staatsorientiertem Argument der Mächterivalität in denShattering Empireshat Roshwald in seiner StudieEthnic Nationalism and the Fall of Empiresdie eher gesellschaftspolitisch basierte These vertreten, vor allem die kurzfristige Mobilisierung ethnischer Nationalismen sei für Umbruch und neue Staatsgründungen verantwortlich (Aviel Roshwald: Ethnic Nationalism and the Fall of Empires. Central Europe, Russia and the Middle East 1914–1923. London 2001). Beide Studien, so unterschiedlich ihre Argumente auch sind, begründen ihr Ergebnis, also die Erosion und den Zusammenbruch der Empires, indes weniger mit langen imperialen Zerfallsprozessen, sondern vielmehr mit kurzfristigen Konstellationen innerhalb der Empires, die sich vor allem während der Ersten Weltkriegs herausbildeten. Letztlich werden eher die Ähnlichkeiten des imperialen Handlungsrepertoires betont, was die noch immer dominierende Vorstellung fundamentaler Unterschiede zwischen westlichen und östlichen Empires als historiographische Tendenz allmählich abschwächt. Bleibt Reynolds Studie auch im Einzelnen unbefriedigend, so lässt sie sich dennoch als Sensor für das weitgehend offene Forschungsfeld der imperialer Verflechtung und des Vergleichs begreifen. Es bleibt spannend an der imperialen Forschungsfront.

Ulrike von Hirschhausen, Rostock

Zitierweise: Ulrike von Hirschhausen über: Michael A. Reynolds: Shattering Empires. The Clash and Collapse of the Ottoman and Russian Empires 1908–1918. Cambridge, New York, Melbourne [usw.]: Cambridge University Press, 2011. XIV, 303 S., 5 Ktn., 25 Abb. ISBN: 978-0-521-14916-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/von_Hirschhausen_Reynolds_Shattering_Empires.html (Datum des Seitenbesuchs)

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