Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 60 (2012), H. 4, S. 623-625
Verfasst von: Anna Veronika Wendland
Larry Wolff: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Stanford, CA: Stanford University Press, 2010. XI, 486 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-0-804-76267-0.
Rekonstruktion eines Konstrukts
Das habsburgische Kronland Galizien ist eine seit bald einhundert Jahren verschwundene territoriale Einheit, deren Phantomgrenzen gleichwohl bis heute überaus präsent sind. In „Galizien“ überlagern sich vielerlei raumbezogene Konzepte: Kontinent der polyphonen literarischen Imagination zwischen „Ost“ und „West“-Europa, Referenzraum der transnationalen Geschichte und transkulturellen Analyse, Parade-Peripherie für europäische Imperial-, Kolonial- und Postkolonialstudien. Vor diesem Hintergrund mag fast in Vergessenheit geraten, dass es sich historisch um eine Neoregion mit relativ kurzer Lebensspanne handelt. Die im Zuge der Teilungen Polens durch Grenzverschiebungen, Annexion und Militäraktion stufenweise synthetisierte österreichische Provinz Galizien ist somit späteren Neoregionen vergleichbar, beispielsweise den ihrerseits in sprachlich-kulturellen Interferenzräumen gelegenen, von den Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen westdeutschen Bindestrich-Bundesländern. Wie diese war Galizien ein Kunstprodukt und musste als zusammenhängender Raum erst erfunden und in kommunikativem Handeln abgesteckt werden.
Diese diskursive, historiografische und politische Operation, an der österreichische, polnische, jüdische, ukrainisch-ruthenische Akteure beteiligt waren und sind, hat der Historiker Larry Wolf in seinem neuen Buch als „Idee“ und „Phantasie“ der politischen Kultur des Habsburgerreiches konzeptualisiert – nicht ohne das Nachleben der Phantasie über das Ende des Kaiserstaates hinaus gebührend zu berücksichtigen. Damit führt er einen weiteren quellengesättigten Beweis für den Konstruktcharakter von Territorien und Geschichtsregionen. Vor allem führt er diesen Beweis auch unter Berücksichtigung des weniger gut erforschten frühen Galizien, also der Provinz in der Zeit der Aufklärung und der Napoleonischen Kriege. Hier ist Wolffs Gedankengang als Fortsetzung seiner Überlegungen zur „Invention of Eastern Europe“ im Zeitalter der Aufklärung zu lesen.
Der Charakter und die Binnenstruktur dieses Konstrukts jedoch – so gesehen, Wolffs Galizien – ergibt sich aus jener Teilmenge von galizischen historischen Akteuren, die der Autor in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt hat. Das sind nämlich ebenjene berufs- und berufungsmäßigen Produzenten von (Staats-)Idee, historischem Sinn und räumlich gebundener Phantasie zwischen 1772 und 1918 und darüber hinaus, deren Denken, Handeln und Erleiden wir aus den publizierten Quellen nachvollziehen können: Herrscherpersönlichkeiten und Politiker, Kleriker, Provinzbürokraten, Wissenschaftler, Historiker, Theaterleute, Dichter. Diese ‚Rekonstruktion des Konstrukts‘ unternimmt Wolff überzeugend, aber um den Preis der Nichtbeachtung all jener, die durch das Raster fallen, weil ihre Artikulationsformen marginalisiert oder gar nicht erst verschriftlicht waren, oder nur über den Weg langwieriger Lokalstudien und durch das Studium nichtpublizierter Akten zu erschließen gewesen wären. So ist das von Wolff vorgestellte Galizienkonzept letztlich ein Konzept ohne den Erfahrungshorizont der Subalternen – sowohl der galizischen Bauern, insbesondere der ruthenischen, als auch der marginalisierten oder aus den nationalen Narrativen abgespaltenen und totgeschwiegenen politischen Bewegungen. Gerade die auf diesem Feld erbrachten Erkenntnisse der letzten 10 bis 15 Jahre sind in dem Werk trotz gelegentlicher Referenzen unterbelichtet.
Lässt man dieses Monitum aber einmal beiseite und liest man das Buch als das, was es ist – die Geschichte eines intellektuell-politischen Konzepts von Galizien – dann kann man Wolffs Gedankengang mit Gewinn folgen. Anregend ist es, die frühe, meist deutschsprachige Galizienliteratur der Aufklärungs- und Umbruchszeit zwischen 1780 und 1815 in einen Kontext eingebettet zu sehen, der zwischen josephinischer „Revolution“ und adlig-konservativer Beharrungskraft, zwischen zivilisatorischer Offensive auf das „barbarische“ Grenzland und galizischen Rechtfertigungsversuchen, zwischen metternichscher Reaktion und polnisch-republikanischer Tradition aufgespannt wird. Diese Texte werden mit der kulturellen Produktion der Zeit – Oper, Theater, Literatur, Stifteraktivitäten – und der frühen galizischen Publizistik in Verbindung gebracht, deren Urheber häufig Grenzgänger waren.
Wir verfolgen zwischen 1800 und 1848 das Ringen um ein Konzept des „Vaterlands“ Galizien zwischen galizischen Polen, Ruthenen und zugewanderten Deutschösterreichern und Böhmen, zwischen ererbten Rzeczpospolita-Bezügen, aus Frankreich und Russisch-Polen kommenden (und enttäuschten) politischen Hoffnungen und vom neuen Staat eingeforderten Loyalitäten. Im Resultat beobachten wir eine Neuausrichtung von Kommunikations- und Bezugssystemen, deren Koordinaten von den neuen Staatsgrenzen und regionalen Schwerpunktbildungen (Lemberg als Kronlandhauptstadt und – ab 1846 – Krakau als kulturell-politischer Konterpart) gebildet wurden. So wird erklärbar, warum den frühen, zunächst sporadischen Selbstbezeichnungen als „Gallicyane“ relativ rasch die Raumaufarbeitung und -auffüllung auf dem Fuße folgte. Dies geschah in Form von Datensammlungen und anderweitiger Wissensaggregation in galizien- (nicht mehr polen-)bezogenen Geografien, gelehrten Zeitschriftenartikeln, Natur- und Kulturaufnahmen. Dazu gehörten auch die in der Forschung gut dokumentierten Entdeckungsversuche der polnisch- wie ruthenischsprachig artikulierten galizischen „Volks“-Kulturen, das Ausschwärmen von Dichtern und Klerikern in die Provinz auf der Suche nach ethnografischer Authentizität. Teil dieses Prozesses ist aber auch die Überführung der so angesammelten Erkenntnisse in Anciennitätsdiskurse, wie sie für die sich zunehmend in Verteilungskämpfe verwickelnden polnischen und ruthenischen Eliten bezeichnend waren. Denn die zunehmend positive Bezugnahme auf den neuen Raum Galizien schloss keinesfalls das Bekenntnis zur polnischen oder ruthenischen, später ukrainischen Nationalidee aus, und sie resultierte auch nicht in der Verschmelzung der galizischen ethnokulturellen bzw. ethnokonfessionellen Gruppen zu einer galizischen Nation. Leider bleibt ein wesentlicher Aspekt der Landeserschließung und -erfassung als Voraussetzung einer Raumkonzeptualisierung Galiziens nicht berücksichtigt, nämlich alle staatlichen Aktivitäten unterhalb des Levels der Kaiser, Statthalter und Minister. Die Idee Galiziens in seinen neuen Grenzen wurde von (Armee-)Kartografen, Steuer- und Katasterbeamten und Statistikern mindestens genauso erschaffen wie von Josef II., Kaunitz, Metternich oder Ossoliński. Die österreichische Galizienkartografie kommt im Buch zwar sporadisch vor, aber mit rein illustrativem Charakter, nicht als reich sprudelnde Quelle für einen neuartigen Territorialisierungsprozess.
Bestechend angelegt und mit Gewinn zu lesen ist das Buch überall dort, wo sich Wolff auf seinem Lieblingsterrain bewegt: der akribischen Dokumentation und wechselseitigen Kontextualisierung aller Produkte, die man mit dem Autor als fantasy bezeichnen könnte. Gemeint ist der literarisch-fiktionale Aspekt der galizischen „Idee“. Wie Wolff den polnischen Komödiendichter Alexander Fredro und den Lemberger Polizeipräsidentensohn Leopold von Sacher-Masoch als Erfinder einer spezifisch galizischen resignativen Ironie, Ambivalenz, sexuellen Grenzaustestung vorführt und Galizien so zum Heimatland peripherer mentaler und politischer Dispositionen ausruft, kann alle Anhänger einer trans- und nichtnationalen Konzeptualisierung von menschlichen Handlungs- und Bezugsräumen nur erfreuen. Wolffs Helden sind solche Figuren, denen von ihren Zeitgenossen mangelnde patriotische Eindeutigkeit vorgeworfen wurde. Diese Verweigerung der eindeutigen Zuordnung bei gleichzeitigem Ausmessen der Grenzen legt Wolff als Wurzel der Galizischkeit frei.
In Sacher-Masochs sexualisierten Sklavenphantasien sieht der Verfasser einen Widerhall der sozialen Verhältnisse rund um das Jahr 1846, als kaisertreue westgalizische Bauern – die damaligen „Sklaven“ der galizischen Gesellschaftsordnung – auf einen Aufstandsversuch polnischer Adliger mit blutiger Rache antworteten. Die Analyse des Schock-Moments von 1846 im vierten Kapitel bildet die Zentralachse des Buchs, wichtiger fast als der historische Moment der 1848er Revolution. Sie ist denn auch eine der seltenen Gelegenheiten, die Wolff ergreift, um den identitären Horizont der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit zu erkunden und gleichzeitig auch eine Grundkonstellation des späteren ruthenisch-polnischen Konflikts und späterer Gewalterfahrungen vorwegzunehmen: hier die bäuerlich-klerikale Loyalität zum fernen Kaiserstaat gegen den nahen sozialen Antagonisten, dort der untaugliche Versuch, mit einem polnischen Republikanismus ohne echte soziale und ökonomische Zugeständnisse an die Subalternen galizische Demokratie zu machen. An dieser Grundkonstellation vermochte auch der Autonomisierungs- und Konstitutionalisierungsprozess seit Mitte der 1860er Jahre nichts zu ändern, er gab im Gegenteil den Anstoß zu einer weiteren Runde im Ressourcenverteilungskonflikt.
Große Sorgfalt verwendet Wolff sodann im Kapitel 5 auf die Analyse eines polnischen Lösungsversuchs für das galizische Dilemma zwischen Imperium, Polyethnizität und aufstrebenden Nationalideen: der Aufstieg eines konservativ-loyalen polnischen Milieus in Westgalizien, das eine Politik der kleinen Schritte im galizischen Rahmen unter Aufgabe der gesamtpolnischen Programmatik („w kraju przez kraj“, S. 195) sowie eine Denktradition geschliffener historisch-kritischer Selbstreflexion (die Krakauer Historische Schule) hervorbrachte. In der Anlage dieses zweiten Zentralkapitels passt diese Programmatik, artikuliert vor allem in den Beiträgen der Krakauer Zeitschrift „Czas“, logisch zum „Advent of Franz Joseph“, zur Etablierung jener Herrschergestalt, die wie kein anderer Habsburger die Provinzloyalitäten schließlich auf sich zu vereinigte. Die Ära des postrevolutionären „im Lande durch das Land“ ging einher mit einer zweiten Welle von Publikationen über das Land und seine ethnografischen Gegebenheiten, die Wolff in den Kapiteln 6 und 7 würdigt. Auch die späteren statistikgesättigten Polemiken sind in dieser Tradition zu sehen, so die berühmte Studie „Nędza Galicyi w Cyfrach“, die der Ökonom Stanisław Sczczepanowski vorlegte, oder die Ende des Jahrhunderts immer besser dokumentierten Zustände der galizisch-jüdischen Gemeinschaft (Kapitel 8), oder auch Ivan Franko, der seine hervorragend dokumentierte Kritik der galizischen Sozialverhältnisse als journalistischer Autor formulierte und dann in das formal ungleich ambitiösere Medium urbaner ukrainischer Literatur überführte.
In den beiden Schlusskapiteln über das Ende und Nachleben Galiziens im 20. Jahrhundert beschäftigt sich Wolff eingehend mit den Versuchen von Polen und Ukrainern im Umfeld und im Nachgang des Ersten Weltkriegs, die „Idee“ Galiziens mit der jeweiligen Nationalstaatsvision in eins zu bringen – eine Form der Reterritorialisierung, welche Galizien als administrative Einheit schließlich nicht überlebte. Die Ukrainer sprachen Galizien zwar historische Legitimität und positive Identität zu, aber die habsburgische Provinz sollte letztlich im Konzept Westukraine aufgehen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert scheiterte dieser Ansatz, in der sowjetischen Ära nach 1944 wurde er schließlich vollendet. Das polnische Projekt war auf ungeteilte Integration des Kronlandes in einen neu zu schaffenden Staat ausgerichtet und resultierte folgerichtig in einer systematischen Liquidierung Galiziens und aller in seinem Kontext überlieferten Verwaltungseinheiten. Die gleichzeitig aufkommende Bezeichnung der ostgalizischen Gebiete in ihrer Gesamtheit als „Ostkleinpolen“ illustriert dies augenfällig.
Im Schlusskapitel kehrt Wolff zur galizischen Idee als fantasy zurück – als dem Kernbereich dessen, was von Galizien tatsächlich blieb in der Zwischenkriegszeit. Der Verfasser schlägt den Bogen von den Pionieren Fredro und Sacher-Masoch zu den späten Vollendern Bruno Schulz , Joseph Roth, Soma Morgenstern oder auch Billy Wilder – letzterer ein Galizier in Hollywood. Aber auch hier bleiben gewisse Fragen in diesem ansonsten sehr aufzählungs-, andekdoten- und episodenfreudigen Band offen. Denn taucht man nochmals ein in das Südostpolen der Zwischenkriegszeit, das einmal Galizien war, und folgt man der bereits in galizischen Zeiten gelegten Spur in die Moderne – statt bei der nostalgischen Phantasie zu verharren – dann trifft man auf einen ganzen Denk- und Schreibkontinent, der womöglich unerwähnt bleibt, weil er nicht zu dieser Idee – Wolffs Idee – Galiziens passt. Ich meine die Lemberger Wissenschaftsmoderne der 1920er und 1930er Jahre, deren Erträge in globaler Perspektive vermutlich eine um vieles nachhaltigere Wirkung hatten als die galizischen Literaten. Ohne die damals in den Lemberger Kaffeehäusern, den Hörsälen der Lemberger Universität und den verqualmten Dozentenbüros der Politechnika Lwowska diskutierenden Mediziner, Physiker, Mathematiker, Logiker, Philosophen, Wissenschaftstheoretiker wie Ludwig Fleck, Hugo Steinhaus, Stefan Banach, Stanisław Ulam oder Leon Chwistek sähen heute die Wissenssoziologie, die Lebenswissenschaften, die Kernphysik, die science and technology studies, die Kulturwissenschaften anders aus. Niemand muss also Wolffs Band beiseite legen in der Annahme, nun sei über Galizien alles gesagt. Ganz im Gegenteil: Dieses Land am Rand, dem Wolff hier sein spezifisches Denkmal gesetzt hat, verlangt und belohnt nach wie vor ein forschendes Hinschauen.
Zitierweise: Anna Veronika Wendland über: Larry Wolff: The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture. Stanford, CA: Stanford University Press, 2010. XI, 486 S., Abb., Ktn. ISBN: 978-0-804-76267-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Wendland_MR_Wolff_Idea_of_Galicia.html (Datum des Seitenbesuchs)
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