Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  613–615

Gerhard Wettig Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963: Drohpolitik und Mauerbau. R. Oldenbourg Verlag München 2006. 312 S., 12 Abb. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 67. ISBN: 978-3-486-57993-2.

Auf der Sitzung des Präsidiums des ZK der KPdSU zur Vorbereitung der sowjetischen Gespräche mit dem US-Präsidenten John F. Kennedy in Wien am 26. Mai 1961 drohte Nikita Chruščev den Westmächten mit dem Abschuss ihrer Flugzeuge, falls diese es wagen würden, die von ihm ins Auge gefasste Luftblockade West-Berlins zu durchbrechen. Denn, so der Kremlchef: „Politik sei Politik. Wolle man seine Politik durchsetzen und ihre Anerkennung und Respektierung erreichen, dann müsse man hart sein.“ Glücklicherweise ließ er wenig später diese Idee zu Gunsten des Mauerbaus fallen, und der Welt blieb ein bewaffneter Konflikt der Supermächte um die geteilte Stadt erspart.

Mit dem Ultimatum vom 27. November 1958 hatte Chruščev die zweite Berlin-Krise vom Zaun gebrochen. Erneut wollte nach Stalin und dessen Berlin-Blockade ein sowjetischer Regierungschef dem westlichen Bündnis dessen Verwundbarkeit im Brennpunkt des Kalten Krieges demonstrieren. Da sich die militärische Unterstützung seines ersten Ultimatums als zu schwach erwies, ließ der sowjetische Parteichef im Mai 1959 sein halbjähriges Ultimatum geräusch- und folgenlos verstreichen. Das heißt jedoch nicht, dass er seine politischen Pläne für West-Berlin aufgab.

Im Frühsommer 1961 verschärfte sich die Situation um die geteilte Stadt erneut. Für eine Lösung der Berlin-Krise im Sinne Chruščevs blieb immer weniger Zeit, so dass sich dieser im Juli 1961 dazu entschloss, das Problem durch eine Abriegelung des Westteils der Stadt zu lösen. Wenig später, am 3. August 1961, legten schließlich Nikita Chruščev und Walter Ulbricht, unmittelbar vor der Sitzung des Politischen Beratenden Ausschusses des Warschauer Paktes, den 13. August als Datum für die Durchführung des Mauerbaus fest.

Dem sowjetischen Partei- und Staatschef war allerdings auch bewusst, dass jede zusätzliche Verschärfung der Krise in Berlin das unkalkulierbare Risiko des Ausbrechens eines von ihm nicht gewollten militärischen Konfliktes mit den Westmächten in sich barg. Deshalb war seine Politik nach der Schließung der Grenzen in Berlin darauf ausgerichtet, die Lage nicht durch weitere Schritte zu verschärfen. In letzter Konsequenz verzichtete der sowjetische Partei- und Staatschef deshalb auch auf die Unterzeichnung des immer wieder von ihm angekündigten separaten Friedensvertrages mit der DDR.

Wie Gerhard Wettig mit seiner Darstellung der sowjetischen Politik während der zweiten Berlin-Krise überaus gelungen zeigt, war die Außenpolitik der UdSSR spätestens seit 1958 im Kern eine persönliche Angelegenheit Chru­ščevs, der deshalb zur Zentralfigur seines Buches avancierte. Auf der Grundlage von zahlreichen neuen Aktenfunden aus dem Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation und dem Russischen Staatsarchiv für Zeitgeschichte macht Wettig deutlich, dass das damalige Denken und Handeln Chruščevs weithin von anderen Voraussetzungen bestimmt wurde, als die Politik im Westen vermutete.

Die Entscheidung zugunsten des langwierigen Konflikts hatte der sowjetische Parteichef weitgehend allein und gegen Bedenken im eigenen Lager getroffen. Auch während der gesamten Krise blieb Chruščev stets treibende Kraft und Initiator des politischen Geschehens. Der Westen konnte auf seine Maßnahmen immer nur reagieren. Bemerkenswert war die Hartnäckigkeit, mit er auf der Erfüllung seiner Forderungen – der Vollendung der Teilung Deutschlands und der Umwandlung West-Berlins in ein von Moskau abhängiges Gebiet – bestand. Die weitgehende Konzessionsbereitschaft des Westens ließ Chruščev überraschend ungenutzt. Wettig sieht die Ursache hierfür in der ideologisch bedingten Fehleinschätzung des bestehenden Kräfteverhältnisses durch den sowjetischen Partei- und Staatschef. Mit den ihm zur Verfügung stehenden wenigen politischen und militärischen Mitteln konnte es nicht gelingen, dem Westen seine Berlin-Politik aufzuzwingen.

Mit dem Nachgeben in der Kuba-Krise blieb dem sowjetischen Partei- und Staatschef die erstrebte global-strategische Parität mit der westlichen Führungsmacht verwehrt. Damit zerstob auch seine Hoffnung, das so geänderte militärische Kräfteverhältnis werde die USA im Streit um Berlin zum Nachgeben nötigen. Chruščev änderte deshalb erneut radikal seinen Kurs. Hinsichtlich Berlins hieß dies, dass die offensiven Ziele in den Hintergrund zu treten hatten, weil die jetzt angestrebte Zusammenarbeit mit den USA nicht gestört werden durfte.

Gerhard Wettig hat mit „Chruschtschows Berlin-Krise“ ein Buch vorgelegt, das durch sorgfältige Analyse, gründliche Recherche und eine ungewöhnlich breite Quellenbasis besticht. Gleich­zeitig ist es ihm gelungen, das politische Handeln des sowjetischen Partei- und Staatschefs in den internationalen Kontext der zweiten Berlin-Krise einzubinden. Wer sich mit diesem zentralen Ereignis des Kalten Krieges beschäftigt, wird an Wettigs Standardwerk nicht vorbeikommen.

Matthias Uhl, Moskau

Zitierweise: Matthias Uhl über: Gerhard Wettig Chruschtschows Berlin-Krise 1958 bis 1963: Drohpolitik und Mauerbau. R. Oldenbourg Verlag München 2006. = Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 67. ISBN: 978-3-486-57993-2, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 613–615: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Uhl_Wettig_Chruschtschows_Berlin-Krise.html (Datum des Seitenbesuchs)