Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 64 (2016), H. 4, S. 659-660

Verfasst von: Felicitas Söhner

 

Enno Schwanke: Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 147 S. = Zivilisationen & Geschichte, 28. ISBN: 978-3-631-65236-7.

Die vorliegende Arbeit analysiert exemplarisch anhand der Heil- und Pflegeanstalt Dziekanka im Stadtgebiet von Gniezno/Gnesen die Struktur der NS-Euthanasie im besetzten Polen. Während des Zweiten Weltkriegs waren dort geistig behinderte und psychisch kranke Menschen Opfer dieses systematischen Tötungsprogramms. Unter Berufung auf Faulstich konstatiert Schwanke, dass allein im besetzten Polen dabei mindestens 26.000 Menschen ermordet wurden, schätzungsweise 15.000 von ihnen allein bis Ende des Jahres 1941.

Die einstige polnische Anstalt Dziekanka wurde ab 1939 in „Tiegenhof“ umbenannt und zunehmend in eine Tötungsfabrik umfunktioniert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht die Rekonstruktion der Ereignisse in der nunmehrigen Gauheilanstalt zwischen 1939 und 1945. Auf Basis von Zeugenaussagen und Strafermittlungsakten aus dem Bundesarchiv Ludwigsburg beleuchtet Schwanke die frühe Phase der nationalsozialistischen „Euthanasie“. Zu dem Zeitpunkt, als in den sechs Tötungsanstalten des sog. „T4-Programms“ (Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Pirna-Sonnenstein, Bernburg, Hadamar) erste Vergasungen erst begannen (ab Januar 1940), waren die meisten Patienten der psychiatrischen Einrichtungen im besetzten Polen bereits umgebracht. (S. 9) Forschungsleitende Fragen sind: Wo liegen die Gründe für den frühen Patientenmord im Warthegau bzw. in Tiegenhof? Welcher Zusammenhang besteht mit den reichsweiten Tötungen im Namen der „Euthanasie“? (S. 10)

Zu deren Klärung ist die Arbeit nach drei wesentlichen Aspekten gegliedert: Zunächst werden die Ursprünge des „Euthanasie“-Diskurses und die ideologischen Anknüpfungspunkte der Nationalsozialisten beleuchtet. Zur Kontextualisierung der Vernichtungen in Tiegenhof werden die Gründung und Entstehung des Reichsgaus, insbesondere dessen organisatorische Bedingungen und Akteure, dargestellt. Darüber hinaus widmet sich die Arbeit der psychiatrischen Anstalt Tiegenhof selbst. Anhand des Quellenmaterials werden Aspekte des Anstaltswesens, der personellen Besetzung wie auch die Tötungsvorgänge selbst (Methoden, Phasen, Ausführung) betrachtet. Dabei richtet der Autor stets ein Augenmerk auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur reichsweiten „Aktion T4“ und der später folgenden „dezentralen Euthanasie“. Als zentrale These konstatiert Schwanke, dass „der Mord in Tiegenhof in seiner ersten Phase wesentlich von den organisatorischen Bedingungen eines überwiegend polnisch geprägten Gaus bedingt war, in dem die Vernichtung von Anstaltsinsassen dem allgemeinen Ziel einer rassischen ‚Flurbereinigung‘ diente. In der dezentralisierten Phase der Anstaltstötungen hingegen war die Gauselbstverwaltung williger Kooperationspartner der Berliner „T4-Zentrale“, während das leitende Anstaltspersonal in Tiegenhof aus Eigenmotivation handelte und aus Anerkennungsgründen tötete.“ (S. 11)

Schwanke kommt zu dem Ergebnis, dass die geschilderten Mordaktionen ihren Ursprung nicht nur im rassistischen und sozialdarwinistischen Denken der Nationalsozialisten hatten, sondern ein wesentliches Resultat der institutionellen Gegebenheiten des „Reichsgaus Wartheland“ waren. Die gaueigenen Tötungsschwadrone unter Herbert Lange hätten weitgehend autonom agiert und sich in der Praxis sehr radikal gezeigt. Der Autor geht der Frage nach, wie unabhängig von der Berliner Zentrale die Tötungen tatsächlich stattfanden (S. 61), und zeigt, in welchem Maße die Gauselbstverwaltung die eigenständige Organisation und Durchführung der Patiententötungen im Wartheland vornahm. Er kommt zu dem Schluss, dass der allgemeine Zusammenhang der „Aktion T4“ mit den Vorgängen in Tiegenhof und im Wartheland bis Ende August 1941 als sehr  gering eingeschätzt werden muss. Erst danach habe sich eine dauerhafte Zusammenarbeit zwischen der bis dahin zuständigen Posener Gauselbstverwaltung und der Berliner Zentrale ergeben. Im Laufe des Krieges wurde Tiegenhof zunehmend Aufnahmeort der reichsdeutschen Einrichtungen, vorrangig im Zusammenhang mit der Evakuierung aus durch Luftangriffe gefährdeten Gebieten. Der Verfasser bemerkt, dass mit dem offiziellen Ende der „Aktion T4“ regionale Radikalisierungsschübe und eine zunehmende Eigenmotivation des Anstaltspersonals zu erkennen sind, die den Krankenmord forcierten. (S. 93)

Der Band weist nach, dass die lokale Besatzungsverwaltung, vertreten durch den NS-Reichsstatthalter Arthur Greiser, eine eigene „Euthanasie“-Zentrale besaß und das gaueigene SS-Sonderkommando Lange, eine Schlüsselposition in den Vorgängen um die frühen Patientenmorde im „Reichsgau Wartheland“ einnahm. Darüber hinaus werden die Transporte nach Tiegenhof und die verschiedenen Phasen des Ermordungsprogramms dargestellt. Im Fokus stehen, abgesehen von der organisatorischen Struktur des „Reichsgaus Wartheland“, die Erfahrungen und Berichte der an den Ermordungen beteiligten Personen und wie diese das „T4-Programm“ und weitere Tötungsprogramme während des Krieges beeinflussten.

Schwanke räumt ein, dass die Arbeit an einigen Punkten auch an Grenzen stieß. Dies betrifft insbesondere fehlende oder nicht geführte Unterlagen der Anstalt Tiegenhof, die die Rekonstruktion erschwerten. Darüber hinaus benennt er ein äußerst komplexes und undurchschaubares System der Patiententransporte sowie ein gewisses historiographisches Desinteresse von Seiten polnischer Institutionen.

Der Verfasser wird seinem Ziel, ein helleres Schlaglicht auf die Heil- und Pflegeanstalt Tiegenhof zu werfen, um den Krankenmord im besetzten Polen ebenfalls zum Gegenstand der Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen zu machen, mehr als gerecht. Eine Ergänzung des Textteils durch Kartenmaterial bzw. Orts- und Personenverzeichnis wäre wünschenswert gewesen. Insgesamt leistet die vorliegende Arbeit einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Vorgänge der NS-Euthanasie in den von den Deutschen besetzten Gebieten.

Felicitas Söhner, Günzburg

Zitierweise: Felicitas Söhner über: Enno Schwanke: Die Landesheil- und Pflegeanstalt Tiegenhof. Die nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2015. 147 S. = Zivilisationen & Geschichte, 28. ISBN: 978-3-631-65236-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Soehner_Schwanke_Die_Landesheil-und_Pflegeanstalt_Tiegenhof.html (Datum des Seitenbesuchs)

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