Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 62 (2014), S. 617-618

Verfasst von: Clemens P. Sidorko

 

James Forsyth: The Caucasus. A History. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2013. XVIII, 898 S., 38 Ill., 31 Ktn. ISBN: 978-0-521-87295-9.

Eine Geschichte Kaukasiens von den Ursprüngen bis zur Gegenwart, verfasst durch einen einzigen Autor, aber mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität, ist ein recht ambitioniertes Unterfangen – leben in jener Gebirgsregion zwischen Europa und Asien doch Angehörige von über 60 Ethnien unterschiedlichster Abkunft. Die soziale Verfassung jener Völker reichte in historischer Zeit von der einfachen Stammes- und Clangesellschaft bis zur Hochkultur; sie kannten eigene Großreiche, aber auch lange Perioden der Beherrschung durch mächtige Nachbarn, und sie hingen und hängen zahlreichen Religionen an: dem Christentum und dem Islam in verschiedenen Bekenntnissen zuvörderst, daneben dem Judentum und dem Zoroastrismus, lange auch lokalen Naturkulten. Bereits die zu bewältigende Forschungsliteratur erfordert Sprachkenntnisse, die den Einzelnen schier überfordern – neben Georgisch, Armenisch und Aserbaidschanisch noch Russisch, Englisch, Französisch und Deutsch, im Falle der Quellenlektüre zusätzlich Arabisch, Persisch und (osmanisches) Türkisch; zur Not vernachlässigbar sind die kleinen Sprachen des nördlichen Kaukasus, weil sie erst im 20. Jahrhundert verschriftlicht wurden.

Der erste Augenschein ist durchaus positiv: Forsyth, emeritierter Spezialist für russische Geschichte, spricht die geschilderte Problematik selbst an und weist aus, mit welchen Sprachen er arbeiten konnte. Zudem schreibt er einen sehr lesbaren Stil und sein Buch ist klar strukturiert: Knapp gehaltene Einführung zu räumlichen und ethnischen Grundlagen (22 Seiten), 300 Seiten zur Geschichte bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts, 500 Seiten zur Moderne bis 2008. Die Prämisse des Verfassers, dass die Darstellung von den indigenen Völkern ausgehen solle, die Region zugleich aber aus ihrem natürlichen Umfeld, dem Nahen und Mittleren Osten, begriffen werden müsse, ist heute eigentlich Standard. Auch wird sie zuweilen etwas überstrapaziert – etwa wenn Forsyth auf fast 10 Seiten einen kompletten (und wirklich gut geschriebenen) Abriss der Kreuzzüge gibt, um erst in einem weiteren Unterkapitel deren Folgen für Kaukasien zu untersuchen. Hilfreich, wenngleich nicht immer zuverlässig sind die zahlreichen Karten: So fehlen in der ethnischen Übersicht (S. 168) manche der durch Nummern bezeichneten Völker auf der Karte, andere in der Legende. Die statistischen Angaben zur Bevölkerungszahl einzelner Ethnien stammen aus den achtziger Jahren. Zwar fanden damals die letzten zuverlässigen Erhebungen statt, überholt sind sie dennoch.

Auch inhaltlich gerät einiges unscharf. Manches darf man als Flüchtigkeitsfehler verbuchen, wie die mehrfache Behauptung, Pompejus sei der erste römische Feldherr gewesen, der in Kaukasien kämpfte (in Wahrheit war es Lucullus). Wenn es dagegen heißt, im 17. Jahrhundert seien die Dagestaner Sunniten gewesen, ihre „Kleriker, Herrscher und Kämpfer“ aber Schiiten (S. 194), dann ist dies ebenso unsinnig wie die Aussage, die Mitglieder von al-Qaida seien Sunniten, die Taliban aber Schiiten (S. 756). Überhaupt fällt auf, dass das vom Verfasser gezeichnete Islambild eher dem Kenntnisstand des 19. Jahrhunderts entspricht. Dass dies Methode hat, belegt ein Blick in die zitierte Literatur: Die Passagen zur Eroberung des Nordkaukasus durch das Zarenreich im 18. und 19. Jahrhundert etwa beruhen v.a. auf den gewiss in vielem bis heute gültigen Darstellungen von John Baddeley (1908), W. E. D. Allan und P. Muratov (1953), dem Kreis um A. Bennigsen (fünfziger/sechziger Jahre) sowie der „Istorija Dagestana“ von 1967. Die gesamte spätere Forschung, auf Englisch z.B. die fundamentalen Untersuchungen des 2013 verstorbenen Moshe Gammer, wird jedoch ebenso unterschlagen wie die postsowjetische Geschichtsschreibung, welche durch radikale Neuinterpretationen und die Herausgabe einer Vielzahl bisher unzugänglicher Quellen ein völlig neues Bild der Ereignisse ermöglicht. Forsyths Darstellung hingegen konserviert den Forschungsstand von 1970! Unter diesen Umständen erstaunt nicht mehr, dass er zur mittelalterlichen Geschichte der nordkaukasischen Bergvölker wenig zu sagen weiß, und im Falle der Tscherkessen gar nahezu nichts – diese Themen wurden eben erst in jüngerer Zeit eingehender untersucht. Generell vermisst man tiefergehende Aussagen zu Sozial-, Wirtschafts- und Geistesgeschichte.

Weniger problematisch ist die Darstellung der jüngeren Vergangenheit, auch wenn manche Interpretation diskutabel bleibt: Ob z.B. 2008 die russischen Panzer bereits durch den Roki-Tunnel rollten und der georgische Präsident Saakaschwili erst daraufhin seine Truppen nach Südossetien schickte (wie Forsyth meint), oder ob der Georgier angesichts einer höchstwahrscheinlich bevorstehenden russischen Intervention die Nerven verlor und als erster losschlug (so die allgemein gängige These), lässt sich nur schwer beweisen. Ärgerlicher ist da schon, wenn zahlreiche Aufsätze und ganze Bücher, die in den Anmerkungen zu den Tschetschenienkriegen der neunziger Jahre oft nur als Kurztitel zitiert werden, im Literaturverzeichnis schlichtweg fehlen und somit unidentifizierbar bleiben.

Insgesamt hinterlässt Forsyths monumentales Werk einen zwiespältigen Eindruck: Wer einen allgemeinen Überblick zur Geschichte der Region gewinnen will, ist mit dem Buch gut bedient. Als Einstieg zu einer vertiefteren Beschäftigung mit diesem oder jenem Kaukasusvolk oder der Rolle der Region in der einen oder anderen geschichtlichen Epoche taugt die Schrift hingegen wenig, weil Darstellung und Angaben zu weiterführender Literatur nicht überall dem aktuellen Stand entsprechen. Angesichts der unbestrittenen Qualitäten der Monografie dürfte ihrer Karriere als historischem Standardwerk für ein breiteres Publikum trotzdem nichts im Wege stehen; für Insider ist sie letztlich eher das Zeugnis eines Scheiterns auf sehr hohem Niveau.

Clemens P. Sidorko, Schopfheim

Zitierweise: Clemens P. Sidorko über: James Forsyth: The Caucasus. A History. Cambridge, New York: Cambridge University Press, 2013. XVIII, 898 S., 38 Ill., 31 Ktn. ISBN: 978-0-521-87295-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Sidorko_Forsyth_Caucasus.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg and Clemens P. Sidorko. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.