Günter Baranowski Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches Rechtsdenkmal. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2005. 769 S. = Rechtshistorische Reihe, 321. ISBN: 3-631-52390-4.

Zu den bedeutendsten Rechtsdenkmälern des europäischen Mittelalters gehörig, ist die Pravda Ros’kaja (Rus’skaja), das Recht der alten Rus’ – besser bekannt in der verkürzten, gleichwohl bewusst unscharfen Bezeichnung als Rus­skaja Pravda, das Russische Recht – in ihrer durch Leopold Karl Goetz vorgelegten, deutschen Ausgabe (Stuttgart 1910–1913) seit langem vergriffen und heute längst nicht mehr an allen Bibliotheken deutschsprachiger Universitä­ten vorhanden. Dabei bot diese kritisch kommentierte, vierbändige Übersetzung verschiedener Rechtstexte, ergänzt um die russischsprachige Edition (Text, Kommentar, Faksimile) von Boris Dmitrievič Grekov (Moskau-Leningrad 1940, 1947, 1963), bisher einen einzigartigen Quellenzugang zur sozialen, politischen und wirtschaftlichen Geschichte Altrusslands.

Doch Günter Baranowskis verdienstvolle Neuauflage verschafft nicht nur Abhilfe bezüglich der editionsbedingten Zugangsbeschränkung. In Anbetracht einer nunmehr fast hundertjährigen Lücke der rechtshistorischen Beschäftigung mit der Russkaja Pravda im deutsch­sprachigen Raum bezieht der Verfasser sowohl die kritischen Reaktionen auf Goetzens Ausgabe als auch die zwischenzeitlich erschienene Fachliteratur für umfangreiche Kommentare mit ein und erstellt darüber hinaus eine kon­zise, wissenschaftshistorisch angelegte Über­sicht (S. 44–157) zum gegenwärtigen Forschungsstand dieser nicht amtlichen, d.h. privaten Sammlung von Gewohnheitsrechten und Normen fürstlicher Rechtsprechung aus der Novgoroder und Kiever Rus’.

Wenn diese Synthese auch über weite Strecken kumulativ erfolgt, d.h. der chronologischen Anordnung der wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsetappen verhaftet bleibt, und man sich eher einen systematischen Zugriff sowie eine Beschränkung auf die problematischen Untersuchungsfelder dieses Rechtsdenkmals gewünscht hätte, so wird die neue Fassung durch die Gesamtschau zu der insbesondere in Russland geführten Debatte (V. I. Sergeevič, V. O. Klju­čevskij, M. F. Vladimirskij-Budanov, B. D. Gre­kov, N. A. Maksimejko, M. N. Tichomirov, L. V. Čerepnin, S. V. Juškov, A. A. Zimin u. a. m.) doch in den Rang eines Referenzwerkes geho­ben, dem seine Aktualität noch lange erhalten bleibt. Dass sich der heute über siebzig Jahre alte Ver­fasser, der unterdessen am gleichen Ort (Rechtshistorische Reihe Bd. 364) die Gerichtsurkunde von Pskov herausbrachte, dabei mit eigenen Schlussfolgerungen und Wertungen sehr zurückhält, wird man mit einigem Recht dahingehend interpretieren dürfen, dass er seine über Jahrzehnte angereicherte Fundgrube dem wissenschaftlichen Nachwuchs zur analytischen Aufbereitung nicht vorenthalten will. Dafür gebührt ihm Anerkennung und Respekt.

Die nun einbändige, voluminöse Ausgabe zum altrussischen Recht, der man ein Hardcover (die Klebebindung geht bei der Besprechung schon aus dem Leim), ein besseres Layout (Schriftgröße, Zeilenabstand, Fußnotenapparat, Gliederung), Mehrbändigkeit und ein Register sehr gewünscht hätte, umfasst – wie seine genannten Vorläufer – die uns bekannten drei Hauptredaktionen, die sich im einzelnen noch weiter auffächern lassen: 1. Das „Kurze Recht“ (Kratkaja Pravda), das neben dem Recht Jaroslavs des Weisen (*978, †1054) und dem Statut seiner Söhne aus dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts auch Abschnitte über Wergeld und Brückenzölle beinhaltet; 2. Das „Ausführliche Recht“ (Prostrannaja Pravda) aus dem frühen 12. Jahrhundert mit dem Recht Jaroslavs und dem Statut Vladimir Monomachs (*1053, †1125); 3. Das „Verkürzte Recht“ (Sokraščennaja Pravda), das eine Zusammenfassung des „Aus­führlichen Rechts“ aus dem 15. Jahrhundert darstellt, verfasst vor Herausgabe der Gerichtsurkunde von Beloozero im Jahre 1488 und des ersten Sudebnik von 1497.

Die Ansicht Vasilij Nikitič Tatiščevs (1749), die Entstehung der Kratkaja Pravda sei um Jahrhunderte vorzuziehen und mithin gemein­slavisch auf gewohnheitsrechtlicher Grundlage zu sehen, hat sich trotz der ihn darin später bestärkenden Ablehnung des „gotischen Einflusses“ durch Ignacy Benedykt Rakowiecki (1822) und Goetzens fragwürdiger Annahme „uralter Rechts­gewohnheiten der östlichen Slaven“ (1910) nicht durchsetzen können. Vielmehr gilt die Rechtssammlung seit Frédéric Henri Strube de Piermont (1756), August Ludwig von Schlö­zer (1767) und Nikolaj Michajlovič Karamzin (1816) als normannischer Kulturimport, auch wenn es seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nicht an Versuchen gemangelt hat, einen Nachweis byzantinischer, kirchenrechtlicher Entlehnung zu führen. Dabei wird die Kratkaja Pravda, trotz gelegentlicher Einwände, als die ältere und ursprüngliche Form angesehen, deren ältester Teil wohl dem Jahre 1016 zugeschrieben werden darf, während die Pravda der Jaroslaviči mehrheitlich in das Jahr 1072 und die Prostrannaja Pravda in das Jahr 1113 datiert wird. Obschon die unterschiedlichen Redaktionen der Rus­skaja Pravda (98 spiski sind inzwischen wohl bekannt) Eingang sowohl in verschiedene altrussische Chroniken als auch in die kirchenrechtlichen Steuermannsbücher (kormčie knigi) gefunden und somit als Gerichtsbuch und Anleitung zur Rechtsprechung wahrscheinlich größe­ren Einfluss auf die Rechtspraxis in den Groß­fürstentümern von Groß-Novgorod und Kiev, von Vladimir-Suzdal’ und Moskau genommen haben, bleibt festzuhalten, dass sie nie den Rang eines offiziellen Dokumentes einnahmen, also nicht zum Gesetzestext wurden und daher auch keine Ausformung zu einem allgemeingültigen Kodex erfuhren.

Den Übersetzungen aller drei Fassungen ist der altrussische Originaltext in modernisierter Schreib­form artikelweise vorangestellt; das „Verkürzte Recht“ findet durch Günter Baranowski erstmals eine deutsche Übersetzung. Ab­gerundet wird das Werk durch ein Glossar (S. 731–735) sowie durch rechtshistorisch relevante, übersetzte Auszüge (S. 736–740) aus den Verträgen der Rus’ mit Byzanz von 911 und 944, aus der Nestorchronik über die Rechtsreform Vladimirs des Heiligen (*nach 962, †1015), aus dem Steuermannsbuch über den „blutigen Mann“, aus dem ersten Vertrag Groß-Novgorods mit der Gotländischen Küste und den deutschen Städten vom Ende des 12. Jahrhunderts, aus dem ersten Vertrag des Fürstentums Smolensk mit Riga, der Gotländischen Küs­te und deutschen Kaufleuten von 1229 und schließlich durch ein ausführliches Literaturverzeichnis (S. 741–769).

Wenn die Übertragung von Texten und Begrifflichkeiten cum grano salis auch durchweg gelungen scheint, so wäre der Verfasser als „Jurist und Rechtshistoriker“ (S. 11) doch gut beraten gewesen, zur Absicherung seiner sprachgeschichtlichen Erklärungen insbeson­dere bei den Bezeichnungen sozialer Verhältnisse (u.a. izgoj, jabetnik, kolbjag, otrok) nicht nur Izmail Sreznevskijs „Wörterbuch der altrussischen Sprache“ (Sankt-Peterburg 1893–1912) zu konsultieren, sondern auch auf Max Vasmers „Etymologisches Wörterbuch“ in der vierbändigen Überarbeitung von Oleg Trubačev (Moskau 1964–73) und auf Knud Rahbek-Schmidts „Soziale Terminologie russischer Texte des frühen Mittelalters“ (Kopenhagen 1964) zurückzugreifen.

Dittmar Schorkowitz, Greifswald

Zitierweise: Dittmar Schorkowitz über: Günter Baranowski Die Russkaja Pravda – ein mittelalterliches Rechtsdenkmal. Peter Lang, Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt a.M. [usw.] 2005. = Rechtshistorische Reihe, 321. ISBN: 3-631-52390-4., in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 57 (2009) H.2, S. 262-263: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schorkowitz_Baranowski_Russkaja_Pravda.html (Datum des Seitenbesuchs)