Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 63 (2015), 3, S. 507-508
Verfasst von: Jürgen W. Schmidt
Elena L. Zberovskaja: Specposelency v Sibiri (1940–1950-e gg.). Krasnojarsk: Krasnojarskij Gosudarstvennyj Agrarnyj Universitet, 2010. 179 S., 13 Tab. ISBN: 978-5-94617-222-6.
Elena Zberovskaja lehrt allgemeine Geschichte an der Krasnojarsker Pädagogischen Universität „V. P. Astaf’ev“. In ihrer Dissertation und in einer Reihe von Aufsätzen hat sie sich bereits früher mit der Geschichte der specposelency („Spezialverschickte“ bzw. „Sondersiedler“) im Krasnojarsker Gebiet auseinandergesetzt. In vorliegender Monographie, im Verlag der Krasnojarsker Universität für Agrikultur in einer kleinen Auflage von 500 Exemplaren erschienen, zieht sie jetzt das Resümee aus ihren bisherigen Forschungen. Die „Spezialverschickten“ umfassten mit Stand vom 1. Januar 1945 in Sibirien reichlich 2.200.000 Menschen. Von ihnen waren ca. 630.000 Menschen (28,5 %) frühere „Kulaken“, welche die erste Welle der „Spezialverschickten“ vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bildeten. Ihnen folgten ab 1939/40 als zweite Welle Polen, Westukrainer und Balten, die aus politischen Gründen als „sozial gefährliche Elemente“ aus den damals an die Sowjetunion neu angegliederten Territorien nach Sibirien deportiert wurden. Als dritte Welle folgte im Verlauf des „Großen Vaterländischen Krieges“ ethnische Minderheiten aus den Völkern, mit denen die Sowjetunion zu dieser Zeit im Krieg befindlich war (Wolgadeutsche, Finnen) und Völkerschaften, welche man der politischen Illoyalität verdächtigte (Kalmyken). Als einziger Kategorie der „Spezialverschickten“ wurden den Polen aus bündnispolitischen Rücksichten ab 1943/44 eine Rückkehr aus Sibirien zugestanden. Als vierte Welle der Spezialverschickten folgten bei und vor allem kurz nach Kriegsende 1945 der politischen Illoyalität verdächtigte Ukrainer (nach der Organisation OUN Ounovcy genannt), ca. 76.000 an der Zahl, sowie „Vlasov-Leute“. Dieser ca. 137.000 Personen starken Gruppe gehörten im krassen Unterschied zu den sonstigen „Spezialverschickten“ fast ausschließlich Männer an, darunter nicht wenige frühere Soldaten, Unteroffiziere und Offizieren der Roten Armee. Ethnisch war diese Gruppe sehr gemischt und umfasste von Belorussen über Georgier, Armenier bis hin zu Tataren fast alle Völkerschaften der Sowjetunion. Ab 1948 folgten als fünfte und letzte Welle der „Spezialverschickten“ die sogenannten ukazniki, die als „parasitäre“ und „gesellschaftsfeindliche Elemente“ gemäß einer Verfügung des Obersten Sowjets der UdSSR vom 21. Februar 1948 nach Sibirien verbannt wurden. Die Institution der „Spezialverschickten“ gab es in der Sowjetunion juristisch bis in das Jahr 1958 hinein; damals lebten von den noch ca. 147.000 diesen Status innehaben Personen über 100.000 in Sibirien. Zur Beaufsichtigung und Betreuung dieses Personenkreises entwickelte sich, beginnend mit der Verschickung der „Kulaken“ in den 30er Jahren, ein vom NKWD unterhaltenes Netz von Spezialkommandanturen über ganz Sibirien, von wo man auch mittels der gebräuchlichen agentura (geheimer Informanten) alle „Spezialverschickten“ geheimpolizeilich überwachte. Auf Grund des in Sibirien stets herrschenden großen Mangels an Arbeitskräften wurden alle „Spezialverschickten“ ohne Rücksicht auf Beruf, Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand exzessiv zu allen anfallenden wirtschaftlichen Tätigkeiten herangezogen. Hierbei ging es weniger um den Einsatz in der Industrie bzw. beim Bau von Industrie- oder Eisenbahnanlagen, als vielmehr um Tätigkeiten in der Holzwirtschaft, Landwirtschaft, bei der Rohstoff- und Lebensmittelgewinnung (Einsatz in den während des Kriegs geschaffenen großen Flussfischereibetrieben). Letzteren Einsatz schildert die Verfasserin auf quellenmäßiger Grundlage besonders detailliert. Die Lebens- und Ernährungsbedingungen waren, wie nicht anders zu erwarten war, sehr schlecht. Volkskommissar Lavrenti Berija meldete an Stalin wahrheitsgemäß, dass die Spezialverschickten während des Krieges nur ca. die Hälfte ihres Lebensminimums erarbeiten konnten und davon auch noch ihre nicht arbeitsfähigen Familienangehörigen unterhalten mussten. Elena Zebrovskaja weist gesondert auf eine spezielle soziologische Folge jener Zwangsarbeit der „Spezialverschickten“ hin, denn sie gewöhnten sich an die sibirischen Bedingungen und neigten im Verlaufe der Jahre immer mehr dazu, ihre Verschickungsorte als neue „zweite Heimat“ zu betrachten. Die Verfasserin hat dieses bislang nur wenig bekannte Kapitel sowjetischer Geschichte auf Grundlage vor allem lokaler, sibirischer Quellen tiefgründig erforscht und beschrieben.
Zitierweise: Jürgen W. Schmidt über: Elena L. Zberovskaja: Specposelency v Sibiri (1940–1950-e gg.). Krasnojarsk: Krasnojarskij Gosudarstvennyj Agrarnyj Universitet, 2010. 179 S., 13 Tab. ISBN: 978-5-94617-222-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt_Zberovskaja_Specposelency.html (Datum des Seitenbesuchs)
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