Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 60 (2012) H. 2, S. 278-280

Verfasst von: Michael Schmidt-Neke

 

Andrea Despot: Amerikas Weg auf den Balkan. Zur Genese der Beziehungen zwischen den USA und Südosteuropa 1820–1920. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. X, 346 S., Tab., 1 Abb. = Balkanologische Veröffentlichungen, 48. ISBN: 978-3-447-06188-9.

Der Einfluss der USA in Südosteuropa war zwischen 1945 und 1990 hauptsächlich auf die NATO-Staaten Griechenland und Türkei beschränkt. Der Systemwechsel in Osteuropa und die militärischen Konflikte, die den Zerfall Jugoslawiens prägten, haben einer umfassenden US-amerikanischen Gestaltungsrolle Tür und Tor geöffnet, die sich nicht auf Militäraktionen und Diplomatie beschränkt, sondern wirtschaftliche und kulturelle Präsenz einschließt. Kollektive Sympathiebekundungen für die USA und ihre führenden Politiker erreichen besonders im albanischen Raum Spitzenwerte, weil das militärische und politische Engagement, das zur Unabhängigkeit Kosovos geführt hat, nahezu ausschließlich den USA zugeschrieben wird, während die europäischen NATO-Länder und die EU als untereinander zerstrittene Erfüllungsgehilfen der USA wahrgenommen werden. Dieser dramatische Wandel hat eine sehr lange Vorgeschichte, der Andrea Despot für den Zeitraum 18201920 nachgeht, also für die Zeit zwischen dem griechischen Aufstand gegen das Osmanische Reich und der Neuordnung Südosteuropas nach dem Ersten Weltkrieg.

Ihr Thema ist dabei das Verhältnis der USA zum Balkan im Rahmen einer Globalisierung, bei der die USA von der Semiperipherie ins Zentrum des Weltsystems vor­stießen, während der südosteuropäische Raum sich bemühte, von der Peripherie zur Semiperipherie zu avancieren. Es geht Despot nicht um das Verhältnis der Balkanvölker und -staaten zu Nordamerika; das hätte den Rahmen einer Dissertation bei Weitem gesprengt. Sie stellt ihre Untersuchung auf fünf Säulen, nämlich Gesellschaft, Wirtschaft, Religion und Bildung, Migration und Regierungshandeln. Sie skizziert diese Säulen im Einleitungskapitel, in dem sie die Fragestellung und ihren theoretischen Bezugsrahmen darlegt, und führt sie dann in jeweils eigenen Kapiteln in Fallbeispielen aus. Dabei wählt sie diese Beispiele aus den verschiedenen Ländern des Balkans und vermeidet so eine zu starke Konzentrierung bzw. eine Vernachlässigung einzelner Länder.

Anhand von vier Beispielen geht sie dem Druck eines breiten gesellschaftlichen Engagements auf die Regierung nach, der diese zum Handeln bewegen wollte. Die US-amerikanischen Philhellenen waren eigentlich in einer besseren Position als ihre europäischen Gesinnungsgenossen, deren Regierungen Aufstände gegen eine Obrigkeit grundsätzlich ablehnten, während man in den USA eine Parallele zum eigenen Unabhängigkeitskampf gegen Großbritannien sah. Doch weder zugunsten der Griechen noch ein halbes Jahrhundert später zugunsten der christlichen Opfer der „Bulgarian Horrors“ und auch nicht 1901, als die makedonischen Rebellen der IMRO eine Amerikanerin entführten, änderte die öffentliche Solidarisierung mit den unterdrückten Christen etwas an dem politisch wie wirtschaftlich begründeten Interventionsverzicht der Regierung obwohl es gerade ein US-amerikanischer Konsul war, dessen Berichte die internationale Öffentlichkeit über diese Gräuel informierten. Immerhin übte die US-Regierung erheblichen diplomatischen Druck auf Rumänien aus, um die Diskriminierung der Juden zu beenden.

Dahinter standen sowohl außenpolitische als auch wirtschaftspolitische Erwägungen; letztere sind Thema der zweiten Säule. Die USA versuchten spätestens seit 1830, sich im rohstoffreichen Osmanischen Reich einen Markt zu erschließen, um aus der Abhängigkeit vom Handel mit Westeuropa, besonders Großbritannien, freizukommen; das forcierten sie, je schneller ihnen der Aufstieg zur Industriemacht gelang, auch wenn die Türkei kein großer Absatzmarkt wurde. Die expansive Handelspolitik wurde durch eine neutrale Außenpolitik abgesichert.

Despot untersucht schwerpunktmäßig den durch den Agrarprotektionismus immer wieder beeinträchtigten Handel der USA mit Griechenland, den Wettbewerb um das rumänische Erdöl vor dem Ersten Weltkrieg und ein gescheitertes US-amerikanisches Eisenbahnprojekt in der Türkei.

Der überwiegend muslimisch beherrschte und orthodox geprägte Balkan war ein Handlungsfeld für protestantische Missionare, die die Verbreitung ihrer Glaubensrichtung mit Sozial- und Bildungsarbeit – auch für Mädchen verbanden. In den unabhängigen Balkanländern war der Einfluss des orthodoxen Klerus jedoch übermächtig, wie die Autorin am griechischen Beispiel zeigt. Doch durchlief eine Reihe von später führenden Politikern das Robert College in Konstantinopel. Auch förderten diese Missionare die Etablierung des bulgarischen Exarchats und damit die bulgarische Nationalbewegung, weil sie sich von einer organisatorischen Schwächung des Patriarchats bessere Chancen für die Bekehrung der Bulgaren zum Protestantismus versprachen. Noch während des Ersten Weltkriegs sahen dem Präsidenten Wilson nahestehende Förderer dieser Missionen eine Chance, die Türkei und Bulgarien aus ihrem Bündnis mit Deutschland zu lösen; Despot vertieft dies im Kapitel über die Politik.

Ganz im Sinne ihres Doktorvaters Holm Sundhaussen untersucht Despot die Rolle der Immigranten aus dem Balkan in den USA. Sie kamen zu spät für die Landerschließung im Westen, und waren zunächst auf eine Existenz als Schwerarbeiter mit geringem Einkommen und ohne soziale Absicherung angewiesen, doch waren die Niedriglöhne immer noch deutlich höher als die in ihrer Heimat. Die Branchen, die Siedlungsregionen und die Strukturen der einzelnen Nationalitäten (z. B. eigene Kirchengemeinden und Presseorgane) unterschieden sich dabei sehr. Mit dem wirtschaftlichen Erfolg kam die Fähigkeit, politische Pressure Groups zu formieren; so engagierten sich Verbände der verschiedenen südslawischen Völker in den USA für eine Befreiung der zur Doppelmonarchie gehörenden südslawischen Gebiete und ihren Zusammenschluss zu dem, was Jugoslawien werden sollte. Unter den Albanern war es der orthodoxe Bischof Fan Noli, der kirchliches und nationales Engagement zugunsten der Wiederherstellung der albanischen Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg bündelte.

Die US-Außenpolitik orientierte sich im 19. Jahrhundert zunächst an einem Diktum des Außenministers und späteren Präsidenten John Quincy Adams, dass die USA zwar mit allen Freiheitsbestrebungen sympathisierten und selbst ein Vorbild sein wollten, dass sie aber nicht „auf die Suche nach Ungeheuern, die erschlagen werden sollten“, gehen würden. Despot geht dem Weg von der amerikanischen Regionalmacht zur Weltmacht nach, die seit dem Ersten Weltkrieg dann doch ständig auf Drachenjagd war. Schon Woodrow Wilsons Vorgänger Th. Roosevelt und W. H. Taft hatten eine Aktivierung der US-Politik gegenüber Europa durchgesetzt. Wilsons Maxime der Selbstbestimmung musste gerade auf dem Balkan versagen, weil die konträren Selbstbestimmungswünsche nicht vereinbar waren. Eine von ihm kurz vor Kriegsende eingesetzte Untersuchungskommission bestritt z. B. die Lebenschancen Albaniens und forderte seine Aufteilung. Hingegen gehörten die USA zu den Geburtshelfern Jugoslawiens. Die USA setzten Minderheitenschutzklauseln in den Pariser Vorortverträgen und anderen Vereinbarungen durch.

Eine Kritik kann der Autorin nicht erspart bleiben: Bei einer Monographie dieses Umfanges ist ein Register der Orts- und Personennamen unverzichtbar. Weniger ins Gewicht fällt der etwas unsystematische Umgang mit Transkriptionen aus kyrillisch schreibenden Sprachen.

Andrea Despots detailreiche, hervorragend strukturierte und gut recherchierte Arbeit ermöglicht den Lesern das Verständnis dafür, wie vielschichtig jenseits von Diplomatie und Militärintervention der Rollenwandel der USA in ihrem Verhältnis zum Balkan verlaufen ist.

Michael Schmidt-Neke, Kiel

Zitierweise: Michael Schmidt-Neke über: Andrea Despot: Amerikas Weg auf den Balkan. Zur Genese der Beziehungen zwischen den USA und Südosteuropa 1820–1920. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. X. = Balkanologische Veröffentlichungen, 48. ISBN: 978-3-447-06188-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schmidt-Neke_Despot_Amerikas_Weg.html (Datum des Seitenbesuchs)

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