Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Band 58 (2010) H. 4, S. 584–586
Aleksej Vul’fov Povsednevnaja žizn’ Rossijskich železnych dorog. Izdat. Molodaja gvardija Moskva 2007. 464 S., Abb. = Živaja istorija: Povsednevnaja žizn’ čelovečestva. ISBN: 978-5-235-03071-8.
Ungeachtet des gegenwärtig wachsenden Interesses der historischen Osteuropaforschung an Fragen der Infrastruktur- und Mobilitätsgeschichte, stellt die Alltagsgeschichte der Eisenbahn im Russländischen Reich und der UdSSR noch immer eine Forschungslücke dar. Dies ist umso erstaunlicher, als die Reise mit der Eisenbahn bis heute zweifelsohne zu einem festen Bestandteil russischer Alltagskultur zählt. Schon im 19. Jahrhundert hat das dampfgetriebene Verkehrsmittel nicht nur zur ökonomischen Entwicklung des Zarenreiches beigetragen und die Zunahme geographischer Mobilität immer größerer Bevölkerungskreise ermöglicht. Gleichzeitig hat die neue und beschleunigte Form der Überwindung räumlicher Distanz bereits Schriftsteller wie Tolstoj, Dostoevskij oder Čechov in ihren Bann gezogen und zu entsprechenden Schilderungen menschlicher Begegnungen im modernen Eisenbahnraum inspiriert. Auch in der sowjetischen Kinematographie war die Eisenbahnreise ein fest etablierter Topos. Der Abschied auf Bahnhöfen, das Rattern der Räder auf endlosen Fahrten durch die ‚russische Weite‛, das Abteilgespräch mit Fremden bei einem Glas Tee und einem gebratenen Hühnchen waren und sind beliebte Sujets des sowjetischen und zeitgenössischen russischen Liedgutes und der Alltagsmythologie.
Dass der Moskauer Verlag „Molodaja gvardija“ eine Monographie über die Alltagsgeschichte der Eisenbahnen Russlands in seine Reihe der „Lebendigen Geschichte“ aufgenommen hat, ist vor diesem Hintergrund ausdrücklich zu begrüßen. Das Werk von Vul’fov kann, positiv gewendet, als bescheidener Anfang der systematischen Auseinandersetzung mit diesem weiten und facettenreichen Themenfeld betrachtet werden. Bei der Bewertung des Buches muss in Rechnung gestellt werden, dass es sich explizit nicht an ein wissenschaftliches Publikum, sondern eine breite Leserschaft richtet, die mit den Besonderheiten der Reisekultur in russischen Zügen vertraut ist und bei Vul’fov etwas mehr darüber erfahren möchte, seit wann es in russischen Waggons Samoware gibt, wie im 19. Jahrhundert der Verkauf von Fahrkarten geregelt war und ob russische Züge im Zarenreich wirklich so langsam fuhren, wie vielfach behauptet. Es kann angenommen werden, dass russische Eisenbahnliebhaber und Freunde von Dampflokomotiven und Anekdoten aus dem Leben russischer Zugführer bei der Lektüre dieses Buches voll auf ihre Kosten kommen. Die Erwartungen eines wissenschaftlichen Lesers bleiben indes weitgehend enttäuscht.
Vul’fov, der Anfang der neunziger Jahre als Journalist für eine Eisenbahnzeitschrift gearbeitet hat und mit der Geographie des russischen Schienennetzes, dem Alltag der Zugreise in der späten Sowjetunion und dem Leben russischer Eisenbahner aus persönlicher Anschauung aufs Beste vertraut ist, hat sein Buch in zwölf Kapitel gegliedert. Die einzelnen Abschnitte sind Themen wie zum Beispiel den technischen Bauten des Eisenbahnsystems, dem Signalwesen, der Geschichte russischer Passagierwaggons, der Reisekultur oder dem Ort des Bahnhofsbuffets gewidmet. An das Ende eines jeden Kapitels hat Vul’fov einen kurzen literarischen Text aus der Feder bekannter russischer Autoren bzw. westlicher Reiseschriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts, wie z.B. Auszüge aus Čechovs „Im Waggon“ (1881) oder aus Théophile Gautiers Bericht „Reise durch Russland“ (1867) gestellt. Wenngleich die Zusammenstellung dieser Textfragmente für den Kenner russischer „Eisenbahn-Literatur“ keine großen Überraschungen bietet, wird Vul’fovs Band durch diese kleine belletristische Anthologie durchaus aufgewertet.
Der darstellende Teil des Buches ist leicht lesbar, zum Teil im Plauderton, an einigen Stellen mit Ironie und Witz geschrieben und mit Anekdoten aus der jüngeren und älteren Eisenbahngeschichte gespickt. An zahlreichen Stellen wird deutlich, dass der Arbeit an dem Buchmanuskript durchaus eine intensive Recherche historischen Quellenmaterials vorausging. So bezieht sich Vul’fov wiederholt auf Gesetze und Verordnungen, die den Eisenbahnverkehr und das Verhalten von Passagieren in Zügen und Bahnhöfen im Zarenreich regelten. Auch statistisches Material, dem z.B. Informationen über die durchschnittliche Reisedistanz russischer Passagiere, über Fahrgastzahlen der einzelnen Klassen und über Preise für die Zugreise im 19. Jahrhundert entnommen wurden, hat der Autor zurate gezogen. Allerdings bleibt es für den Leser vielfach unklar, auf welche Quellen bzw. Werke der Sekundärliteratur sich Vul’fov in den einzelnen Fällen stützt. Dem Buch fehlt sowohl ein wissenschaftlicher Apparat (Fußnoten) als auch eine Bibliographie der verwendeten Literatur und Primärquellen. In vielen Fällen zieht Vul’fov seine Informationen schlicht aus belletristischen Werken des 19. und 20. Jahrhunderts, was in Einzelfällen legitim erscheinen mag, auf der anderen Seite jedoch einer entsprechenden methodologischen Reflexion über den Umgang mit Quellen dieser Art bedurft hätte.
Trotz dieser offensichtlichen Schwächen des Buches bietet Vul’fov auch für den wissenschaftlich interessierten Leser so manch spannendes Detail. So führt der Autor beispielsweise aus, dass die staatlichen Eisenbahnen der UdSSR bis in die siebziger Jahre aus strategischen Überlegungen einen Fuhrpark aus alten Dampflokomotiven unterhielten und sowjetische Bahnhöfe bis in diese Zeit mit der entsprechenden Infrastruktur zu deren Versorgung mit Brennmaterial und Wasser ausgestattet waren (S. 298). Interessant erscheint auch, dass sich viele Eisenbahnbauten aus dem 19. Jahrhundert, so zum Beispiel der Bahnhof des Ortes Astapovo, an dem 1910 Lev Tolstoj verstarb, bis in die neunziger Jahre offensichtlich weitgehend unverändert erhalten hatten und erst im heutigen Russland von den Gefahren des alles erfassenden „Evroremont“ bedroht sind (S. 296). Auch die Ausführungen über die Geschichte und Organisation des Bahnhofsbuchhandels im Zarenreich und die Rolle der Eisenbahn als Mittel zur Verbreitung von gedrucktem Wissen (S. 344ff.) enthalten Informationen, die man an anderer Stelle nicht findet.
Irritierend wirken dagegen die Versuche Vul’fovs die Eisenbahn des Zarenreiches als ein besonders ‚humanes‛ Verkehrsmittel zu mystifizieren, dessen Planer um das Wohl der Passagiere besonders besorgt gewesen seien (z.B. S. 233, 308ff.). Hätte Vul’fov bei seiner Arbeit auch Reiseberichte russischer Passagiere oder Beschwerdebücher aus dem Archiv des Verkehrsministerium zurate gezogen, wäre sein Urteil an vielen Stellen gewiss differenzierter ausgefallen. Geradezu skurril sind Passagen, in denen der Autor von den Kochkünsten einer Mitarbeiterin eines Eisenbahnbuffets an einem russischen Provinzbahnhof in den siebziger Jahren schwärmt (S. 322) oder spekuliert, dass in den dreißiger Jahren so viele Züge zwischen Mitternacht und den frühen Morgenstunden fahrplanmäßig ihren Zielbahnhof erreichten, um den Mitarbeitern des NKVD den Zugriff auf gesuchte Passagiere zu erleichtern (S. 293–294). Auch zahlreiche inhaltliche Fehler lassen sich in dem Buch finden. So kolportiert z.B. auch Vul’fov den Mythos, Nikolaj I. habe aus strategischen Gründen die russische Breitspur für den Bau russischer Schienenverbindungen gewählt (S. 70). Auch der Versuch des Autors, Pavel Mel’nikov – einer der Ingenieure, die den Bau der Bahnlinie St. Petersburg-Moskau planten, und später der erste russische Verkehrsminister – zu einer Heldenfigur aufzubauen, die „Gott an den Horizont der Geschichte stellte“ (S. 33) ist für einen kritischen Leser befremdlich. Dass Vul’fov – von westlicher Forschungsliteratur ganz zu schweigen – bei seiner Arbeit auch zahlreiche neuere russische Arbeiten zur Geschichte der Bahnhöfe (z.B. Nina Petuchovas Buch über den „Platz der drei Bahnhöfe“ in Moskau aus dem Jahr 2005 oder das Werk von I. A. Bogdanov über die Bahnhöfe St. Petersburgs aus dem Jahr 2004) nicht berücksichtigt hat, ist ein letzter Kritikpunkt zu diesem letztendlich enttäuschenden Buch zu einem wichtigen Thema.
Frithjof Benjamin Schenk, München
Zitierweise: Frithjof Benjamin Schenk über: Aleksej Vul’fov Povsednevnaja žizn’ Rossijskich železnych dorog. Izdat. Molodaja gvardija Moskva 2007. = Živaja istorija: Povsednevnaja žizn’ čelovečestva. ISBN: 978-5-235-03071-8, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 584–586: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schenk_Vulfov_Povsednevnaja_zizn.html (Datum des Seitenbesuchs)