Melanie Ilič, Susan E. Reid, Lynne Att­wood (eds.) Women in the Khrushchev Era. Palgrave Macmillan Houndmills, Basing­stoke 2004. XIV, 254 S. = Studies in Russian and East European History and Society.

Der Sammelband umfasst elf innovative Aufsätze aus unterschiedlichen Disziplinen, die neue Forschungsergebnisse und weiterführende Fragen zur sowjetischen Moderne aufweisen. Die Publikation erscheint in der Reihe des Centre for Russian and East European Studies an der Universität Birmingham, in der bereits andere wegweisende Bände zur russischen und sowjetischen Frauen- und Geschlechtergeschichte herausgegeben worden sind.

Zur Einleitung bietet Melanie Ilič einen allgemeinen Überblick über die Geschichte der sowjetischen Frauen zwischen 1956 und 1964, die geprägt war von einem kriegsbedingten Frauenüberschuss. 1964 stellten Frauen fast die Hälfte der bezahlten Arbeitskraft, waren aber in politischen Organisationen unterrepräsentiert. Es gab nur unzureichende staatliche Einrichtungen zur Kinderbetreuung, weshalb die Vereinbarkeit von Familien- und Lohnarbeit vor allem auf der Mithilfe familiärer Netzwerke beruhte. Hausarbeit und Kindererziehung galten traditionell als weibliche Tätigkeiten; der Vater war das Familien­oberhaupt. Diese patriarchalische Geschlechterhierarchie war gerade auch in der ländlichen Bevölkerung anzutreffen, wo sich Klagen über das Fehlen von Frauen in den Führungspositionen häuften. Offiziell kümmerte sich das Komitee der Sowjetfrauen um die Frauenfrage; jeweils am 8. März, dem Internationalen Frauentag, gab es plakative Lobeshymnen. Das Alltagsleben blieb trotz angestrebter Verbesserungen mühsam.

Donald Filtzer untersucht weibliche Lohnarbeit und schildert die Marginalisierung von Arbeiterinnen in einer patriarchalischen Arbeitswelt. Arbeiterinnen verdienten weniger als Männer, da sie oftmals wenig prestigeträchtige Berufe wählten, die aber besser mit der Familienarbeit vereinbar waren. Michaela Pohl hat zwischen 1994 und 2000 Zeitzeuginnen zum Siedlungsprojekt in der kasachischen Steppe befragt, das ein soziales Experiment und eine Form der Entstalinisierung war. Damals wurden vor allem Arbeitskräfte als Neusiedler gesucht, die sich durch die Aussicht auf  Geldlöhne auch anwerben ließen. Allerdings waren gerade die Arbeitsbedingungen für Frauen sehr schlecht und die Anfangsjahre von Konflikten und Gewalt innerhalb der Siedlungsgemeinschaft geprägt. Das Jahr 1957 gilt heute als Aufbruch in neue Zeiten und als Ende der kulturellen Isolation hinter dem Eisernen Vorhang, wozu maßgeblich das Jugendfestival in Moskau beigetragen hat. Kristin Roth-Ey sieht in den damals kursierenden Gerüchten Zeichen des beginnenden Wandels; in heutigen Erinnerungen war es eine spontane sexuelle Revolution, in der die legendären „Festivalkinder“ gezeugt wurden. Propagandaparolen für die Völkerfreundschaft scheinen sehr konkret umgesetzt worden zu sein, was trotz der Xenophobie im späten Stalinismus auf eine gesellschaftliche Offenheit für die Begegnung mit anderen hinweist. Die Inszenierung von Weltläufigkeit muss aber auch als Reaktion auf den Einmarsch sowjetischer Truppen 1956 in Ungarn bewertet werden. Zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wurden zivile Gruppen und Polizei eingesetzt, und die Straßen wurden von „leichten Mädchen“ gereinigt, die verhaftet oder aus der Stadt verbannt wurden.

Ideale der sozialistischen Kindererziehung und ihre Umsetzung im Alltag beschreibt Deborah Field. Jugendliche, die sich dem Rock’n Roll verbunden fühlten und Stiljagi genannt wurden, galten als Negativbeispiel, da sie frivol, konsumorientiert und selbstbezogen seien. Eltern sollten dagegen selbstlose zukünftige Kommunisten erziehen, verfolgten aber eher eigene als staatliche Interessen bei der Sorge um den Nachwuchs. Das Bild von Chruščëv als Reformer wird in dem Beitrag über die Darstellung von Mutterfiguren in sowjetischen Kinofilmen relativiert. Der spätere Parteivorsitzende habe die lakirovka in Filmen aus der Stalinzeit kritisiert, also die schönfärberische Darstellung von Kolchosen im Kino. Doch John Haynes zeigt am Beispiel der Filme „Wenn die Kraniche ziehen“ und „Ballade vom Soldaten“ die Grenzen des liberalen Denkens. Dazu untersucht er Frauenbilder, die immer wieder auf eine biologisch begründete Mutterrolle reduziert sind. Seit den späten 1950er Jahren erschienen im Zuge einer boomenden Memoirenliteratur auch Sammelbände sowjetischer Frauen mit autobiographischen Beiträgen, die Marianne Lilje­ström unter dem Aspekt der Konstruktion von Identität ausgewertet hat. Die Autorinnen erzählen darin ihre Lebensgeschichten und präsentieren sich als Zeitzeuginnen wichtiger historischer Entwicklungen, die sie somit für die Nachwelt dokumentieren. Die Idee des Kollektivs wird durch die Reproduktion von Normen gestärkt, gleichzeitig aber auch Raum für individuelle Erfahrungen geschaffen.

Susan E. Reid analysiert Bilder von Wohnun­gen unter dem As­pekt propagierter Lebensweisen und individueller Gestaltung. Chruščëv sah es als natürliche Aufgabe der Frau an, sich um den häuslichen Bereich zu kümmern, allerdings sollte sie gleichzeitig Kinder gebären und einer Lohn­arbeit nachgehen. Das Alltagsleben und die Lebensweise waren nicht privat, sondern wurden von der Politik wie­der stärker in Augenschein genommen. Die Organisation von Wohnen und Haushalt wurden öffentlich diskutiert und Idealtypen in der visuellen Kultur vermittelt. Allerdings ließ sich die individuelle Gestaltung des Alltagslebens dadurch nicht weitreichend ändern. Der anschließende Aufsatz von Lynne Attwood beschäftigt sich mit Wohnungsbaukampagnen. Unter dem Motto „eine Woh­nung pro Familie“ wurden in dem 1958 verabschiedeten 7-Jahres-Plan in großer Zahl neue Häuser gebaut. Um die Planziffern zu erreichen, wurde die standardisierte Plattenbauweise angewandt. In verschiedenen Zeit­zeu­gen­interviews in Moskau  hat Lynne Attwood untersucht, wie das Wohnungsbauprogramm aufgenommen wurde und wie es sich auf die Geschlechterrollen auswirkte. Der Umzug von einer Kommunal- in eine Einzelwohnung galt als Verbesserung. Entgegen dem propagierten Gemeinschaftssinn konnte so durch die Frauen ein hohes Maß an Privatheit innerhalb der eigenen vier Wände geschaffen werden. Für viele wurde dadurch die Haushaltsführung zu einer noch wichtigeren Aufgabe. Der Versuch von Chruščëv, das Alltagsleben wieder stärker zu politisieren und zu reglementieren, umfasste auch die antireligiösen Kampagnen, auf die Sue Bridgers Beitrag eingeht. Die erste Kosmonautin, Valentina Tereškova, wurde zur Ikone des Atheismus, basierte ihr Ruhm doch auf den unglaublichen technischen Errungenschaften der sowjetischen Raumfahrt. Oftmals gab es in den Glaubenskongregationen einen deutlichen Frauenüberschuss, was nicht nur am demographischen Wandel lag. 1961 wurde propagiert, der Kommunismus stehe unmittelbar bevor, weshalb die Religion ein Hindernis und ein Gegner sei. Chruščëv befürwortete die Wiederaufnahme antireligiöser Kampagnen, die in der späten Stalin-Zeit verboten waren, und klagte über Mütter, die ihre Kinder religiös erzogen oder taufen ließen. Der Entwurf einer neuen Lebensweise war rationalistisch, die abweichenden Sinnkonstruktionen von Frauen konnten aber religiös motiviert sein. In einem eigenen Beitrag befasst sich Sue Bridger mit der Rolle der ersten Kosmonautin in Zeiten des Kalten Krieges und des Kosmosfiebers. Sie stellt die These auf, dass nach Sputnik 1957 und Gagarins erstem Raumflug 1961 Valentina Tereškova in der Sowjetunion als eine neue, öffentliche Gegenfigur zu John F. Kennedy aufgebaut wurde. Sie besaß einen vorbildlichen Lebenslauf und war eine loyale Sowjetbürgerin, die weniger als Militärangehörige, sondern vornehmlich als zivile Person, als Botschafterin für Frauen und Frieden inszeniert wurde. Sie verkörperte das menschliche Antlitz des Sozialismus, ohne jedoch für eine Gleichberechtigung der Geschlechter einzustehen.

Am Ende des Sammelbandes wäre eine Synthese der neuen Aspekte zur Chruščëv-Zeit wünschenswert gewesen. Insgesamt liegt ein lesenswerter, sorgfältig redigierter Sammelband vor, der einem breiten Fachpublikum viele Anregungen bietet.

Carmen Scheide, Basel

Zitierweise: Carmen Scheide über: Melanie Ilič, Susan E. Reid, Lynne Attwood (eds.) Women in the Khrushchev Era. Palgrave Macmillan Houndmills, Basingstoke 2004. = Studies in Russian and East Europaen History and Society. ISBN: 1-403-92043-5, in: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Scheide_Ilic_Reid_Attwood_Women.html (Datum des Seitenbesuchs)