Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Ausgabe: 61 (2013), 2, S. 270-275

Verfasst von: Susanne Schattenberg

 

Gericht über das Reich der Toten

Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. München: Blessing, 2010. 879 S. ISBN: 978-3-89667-430-2.

Der vorliegende Band beginnt mit drei biographischen Vignetten: Franz Krapf (geb. 1911) trat als SS- und NSDAP-Mitglied 1938 in den Auswärtigen Dienst, wirkte während des Krieges als Mitarbeiter des Sicherheitsdiensts an der Botschaft in Tokio und kehrte 1951 mit der Neugründung des Auswärtigen Dienstes ebendorthin zurück. Fritz Kolbe (geb. 1900) diente seit 1925 dem Auswärtigen Amt, weigerte sich in die NSDAP einzutreten, kooperierte seit 1943 mit dem amerikanischen Geheimdienst und wurde in der Bundesrepublik alsVaterlandsverräternicht wieder in den Dienst aufgenommen. Franz Nüßlein (geb. 1909), NSDAP-Mitglied seit 1937, war als Oberstaatsanwalt im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren für die Bestätigung zahlreicher Todesurteile verantwortlich. Alsnicht amnestierter Kriegsverbrecher1955 in die Bundesrepublik abgeschoben, gelang ihm im selben Jahr der Eintritt in den Auswärtigen Dienst (S. 9–10). Die Kritik am ehrenden Nachruf auf letzteren veranlasste Außenminister Joschka Fischer 2003 anzuweisen, ehemaligen NSDAP-Mitgliedern künftig keine solche Ehre mehr zu erweisen. Als daraufhin der hier zuerst genannte Krapf bei seinem Tod 2004 ungeehrt blieb, protestierten 76 Diplomaten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit einer privaten Todesanzeige. Fischer setzte in Reaktion auf diese Provokation 2005 eine Historikerkommission zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Auswärtigen Amts ein, deren Bericht hier auf rund 880 Seiten vorliegt.

Der SS-Diplomat, der vor und nach 1945 im Außenamt Karriere machte, der in Westdeutschland stigmatisierte Widerstandskämpfer, der erst 2004 Anerkennung fand, und der Kriegsverbrecher, der nach 1955 im AA Unterschlupf fanddies sind laut Bericht drei exemplarische Karrieren, die Geist und Belegschaft des Außenamtes charakterisieren (S. 21). Solche Schilderungen vieler einzelner Kurzbiographien dominieren die gesamte Studie, die den Anspruch erhebt,sowohl individuelles Verhalten zu erklären als auch die strukturellen Rahmenbedingungen und ihre Dynamik zu berücksichtigen(S. 14). Die Summe der vielen einzelnen Karrieren soll das Gesamte der Handlungen erklären, um der Frage nachzugehen:Welche Rolle spielte der Auswärtige Dienst im nationalsozialistischen Herrschaftssystem und Terrorapparat?(S. 13) Der Zeit bis 1945 ist die erste Hälfte des Bandes mit 300 Seiten gewidmet, während der zweite, mit 500 Seiten wesentlich umfangreichere Teil fragt, wie es nicht nur gelingen konnte, dass Karrieren nahtlos in der Bundesrepublik weiterliefen, sondern auch der Mythos vom Außenamt als Hort des Widerstands und Wiege des 20. Juli erfolgreich etabliert wurde.

Ganz grob folgt der Bericht drei Argumentationslinien: (1) Die Diplomaten im Außenamt waren nicht nur stets über Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden bestens informiert, sie waren auch aktiv daran beteiligt, mehr noch: Sie ergriffen immer wieder selbst die Initiative, um ihrer Institution eine aktive Rolle zu verschaffen und nicht marginalisiert zu werden. (2) Von einem flächendeckenden Widerstand der Diplomaten kann keine Rede sein; die wenigen Mitverschwörer des 20. Juli wie Ulrich von Hassell, Adam von Trott zu Solz oder Friedrich-Werner von der Schulenburg waren isolierte Einzelfälle. (3) Die Unterteilung inalte, über den Verdacht derKollaborationerhabene,saubergebliebene Diplomaten einerseits undjungeNSDAP- und SS-Angehörige, die im Außenamt zu Mördern und Kriegsverbrechern wurden, sei eine Mär, die gezielt und mit großem Erfolg im Rahmen desWilhelmstraßen-Prozesses1949 v. a. im Ringen um den Freispruch für Staatssekretär Ernst von Weizsäcker in die Welt gesetzt wurde und zum Gründungsmythos des westdeutschen Außendiensts avancierte. Die These von der Kontinuität steht damit stark im Vordergrund: Weder 1933 habe es mit Hitlers Machtübernahme eine Austrittswelle von Diplomaten gegeben, noch markiere die Ablösung des Außenministers Constantin von Neurath, eines Berufsdiplomaten, durch den Quereinsteiger und Hitler-Epigonen Joachim von Ribbentrop Anfang 1938 einen Bruch; weder habe es unter Adenauer einen personellen Neuanfang gegeben, noch habe sich Willy Brandt als Außenminister 1966 zu einer Aufarbeitung derbraunen Vergangenheitseines Ministeriums durchringen können.

So weit und so bestürzend die Anklage, wenngleich dies alles nicht neu ist, wie bereits in zahlreichen Rezensionen bemerkt wurde. Auch wenn Fischer 2005 der erste Außenminister war, der eine Kommission auf sein Archiv ansetzte, gab es seit den Studien von Eliahu Ben Elissar: La diplomatie du IIIe Reich et les juifs 1933–1939 (1969), Christopher Browning: The Final Solution and the German Foreign Office (1978) und Hans Jürgen Döscher: Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten derEndlösung(1987) fundamentale Studien bzw. mit denAkten zur Deutschen Auswärtigen Politik 1918–1945veröffentlichte Quellen, über die der vorgelegte Kommissionsbericht, jedenfalls die Zeit bis 1945 betreffend, nicht hinausgeht. Etwas gönnerhaft und wohl mit einem Augenzwinkern hat Christopher Browning in einer Rezension vermerkt, dass er sehrzufriedensei, dassDas Amtalle seinegrundlegenden Befunde in vollem Umfang bestätigthabe.1 Allerdings gibt es viele weniger wohlwollende Kritiker, die dem Werk vornehmlich im ersten Teil grobe handwerkliche Fehler, mangelnde Differenzierung und apodiktische Pauschalurteile vorwerfen. Tatsächlich entsteht mitunter der Eindruck, als seien die Diplomaten nicht nurwillige Vollstrecker, sondern eigentliche Urheber und das Außenamt hauptverantwortliche Behörde für den Judenmord gewesen, neben denen andere Akteure und Institutionen wie das Reichssicherheitshauptamt verblassen. So werden Botschaftsberichteindirekt zum Auslöserfür den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933 (S. 29), war angeblich schon am 25. Januar 1939 als Ziel der deutschen Außenpolitik dieEndlösungderJudenfragevorgezeichnet (S. 173–174) und wird eben jener Beschluss auf ein Gespräch zwischen Hitler und Ribbentrop am 17. September 1941 terminiert (S. 185). Michael Mayerverschlägt esangesichts solcher Usurpationdie Sprache2; Richard J. Evans kommentiert: It should hardly be necessary to point out that there is an enormous and almost unmanageable scholarly literature on the question of when, how, and by whom the decision to exterminate Europes Jews was taken. This literature is neither referenced nor discussed […].3  Johannes Hürter hält es für eininterpretatorisches Grundproblem der Darstellung, dass sie ganz offensichtlich von der Prämisse ausgeht, der Weg von der Entrechtung zur Ermordung der Juden sei nicht nur zwangsläufig, sondern hätte den beteiligten Vertretern der alten Eliten schon vor dem Kriegsbruch klar sein müssen.4 Problematisch ist auch die pauschalierende Sprechweise vondem Amt, die nicht zwischen einzelnen Abteilungen oder Personen unterscheidet. Während einerseits die Kontinuität von Neurath, der als Botschafter in Rom dieStabilitätder Diktatur Mussolinis schätzen gelernt habe (S. 36), zu Ribbentrop unterstrichen wird, wird andererseits das Jahr 1938 doch als Bruch dargestellt (S. 125), da nicht nur Ribbentrop für einen ganz anderen Stil in der Außenpolitik stand, sondern mit ihm auch viele junge SS- und NSDAP-Nachwuchskräfte rekrutiert wurden, die weniger in Botschaften und Konsulaten als in Parteischulen und auf Drillplätzen sozialisiert worden waren, wie die Studie selbst einräumt (S. 139). So sehr es richtig ist, dass sich altgediente Botschafter 1933 diensteifrig anheischig machten, die massive Verfolgung und Terrorisierung von Juden nach außen zu rechtfertigen, so wichtig ist es, genau hinzuschauen, wer aktiv die Deportation und Ermordung betrieb. Dies waren in erster Linie junge, fanatische Parteianhänger, die Ribbentrop aus seiner Dienststelle mit ins Amt brachte (S. 128). Das gilt insbesondere auch für Südosteuropa, wie Stefan Troebst korrigiert: Diejenigen, die aktiv vor Ort an der Deportation von Juden aus Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Jugoslawien beteiligt waren, waren keine Karrierediplomaten, sondern rekrutierten sich überwiegend aus SA und SS.5
Insgesamt ergibt sich ein verzerrtes Bild von der Situation in Ost- und Ostmitteleuropa als Hauptschauplatz des Vernichtungskrieges und des Holocausts. Denn dort, wo das Außenamt keine Dependenzen mehr unterhielt, gab es auch keinen Einfluss aus der Wilhelmstraße mehr, ergo fehlt dieser Teil der Geschichte im Kommissionsbericht, ohne dass erläutert würde, dass dort die Gräueltaten am massivsten waren, wo das Außenamt außen vor blieb. So irritiert es, dass in dem KapitelBesatzungAusplünderungHolocaust, das nach Ländern gegliedert ist, kein KapitelSowjetunionexistiert. Mehr am Rande wird erwähnt, dass das Außenamt bei der Planung desUnternehmens Barbarossanur Zaungast blieb (S. 201). Noch erstaunlicher ist, dass das Zustandekommen des Hitler-Stalin-Pakts nur im Vorübergehen erwähnt wird:Am 23. August unterzeichnete Ribbentrop in Moskau den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt.Hier wird augenfällig, was nahezu in jeder Rezension reklamiert wurde: Der Kommission geht es kaum um Diplomatie im herkömmlichen bzw. vollen Sinne des Wortes, sondern in erster Linie um die Verwicklung der Diplomaten in den Holocaust. Dabei wird ignoriert, dass das Zustandekommen des Hitler-Stalin-Pakts nicht nur ein Coup der Diplomatie war, sondern erst den Angriffskrieg und damit auch das industrielle Morden möglich machte. Es bleibt unverständlich, warum dieser entscheidende Teil der Diplomatie, der Hitler den Weg zum Zweiten Weltkrieg bahnte, von der Kommission nicht aufgearbeitet wurde. Vielleicht liegt die Ursache dafür darin, dass die Kommission zwar Spezialisten zum Holocaust und zur NS-Geschichte sowie zur Vergangenheitsbewältigung in der BRD aufweist, nach dem Erkranken von Klaus Hildebrand aber kein dezidierter Experte für Außenpolitikgeschichte nachrückte (S. 718). So wird zwar überzeugend dargelegt, wie dieJudenfragezum Thema der Außenpolitik und zum Vehikel wurde, mit dem das Amt, letztendlich mehr schlecht als recht, seine Marginalisierung zu verhindern suchte. Aber alle anderen Bereiche und Gegenstände von Außenpolitik finden nicht statt. Was von anderen Rezensenten zur Rezeption der Sekundärliteratur zum Thema Außenamt und Holocaust im Allgemeinen6 oder Vernichtungskrieg in Südost- und Ostmitteleuropa7 im besonderen angemerkt wurde, gilt auch für die Literatur zur (neuen) Diplomatiegeschichte: Sie wurde nicht (ausreichend) rezipiert und zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen gemacht. Die Fokussierung auf die Intentionen der Diplomaten und die Funktionalisierung derJudenpolitikverstellt den Blick auf alle anderen Aspekte, die Diplomatie ausmachen oder Diplomaten(generationen) hätten voneinander unterscheiden können. Anders als in der Einleitung angekündigt, verbinden sich die vielen biographischen Vignetten weder zu einer Milieustudie noch zu einer Kulturgeschichte. Herkunft, Sozialisation, Bildungswege, Karrierestationen, Lektüregewohnheiten und andere mögliche Einflussfaktoren werden nicht systematisch untersucht. Anstatt beispielsweise der spezifischen, vielleicht aber auch typischen Geisteshaltung Ernst von Weizsäckers auf den Grund zu gehen, um diese Person, sein Hadern und Mitmachen zu verstehen, streicht der Kommissionsbericht v. a. die Momente heraus, die ihn als Täter des NS-Regimes entlarven (S. 126–137). Wiederholt ist von Rezensenten angemerkt worden, dass nicht nur entscheidende Textstellen, die zur Entlastung von Weizsäckers dienen könnten, mitunter ignoriert wurden, sondern dass diese Akten nicht einmal im Original herangezogen wurden, obwohl sie sogar als solche publiziert sind, und statt dessen auf Sekundärliteratur verwiesen wird (S. 229, Fußn. 32 und 33).8 Es ist ein Grundproblem, dass diese Studie offenbar ständig auf die Frageschuldig oder nicht schuldigmeint antworten zu müssen, anstatt sich der eigentlichen Aufgabe des Historikers zu widmen: dem Verstehen. Wie einst Marc Bloch anmahnte, der Historiker sei nicht Richter über das Totenreich, sondern solle nur sagen, wer die Menschen wirklich gewesen seien, so wirft auch Evans der Kommission vor:[] they should have remembered that the historian is not a prosecutor and history is not a court.9 Versuche aber, das Handeln auch eines von Weizsäckers aus Zeit, Milieu, Situation oder gar herrschendem Diskurs heraus zu erklären, werden nicht unternommen. Wie Hans Mommsen bemerkte,wird immer wieder unterstellt, dass dasEndziel [] von vornherein in den Köpfen vorhanden war. EinePrüfung, wie und warum sich Akzeptanz und Teilnahme an der Vernichtungspolitik immer stärker durchgesetzt haben, fehlt.10

Nun könnte man argumentieren, dass dies keine Geschichte der Diplomaten, sondern des Außenamts, also einer Institution, sei. Zum Amt aber wird konsequent die These vertreten, dass Motiv und Antrieb, Teil der Vernichtungsmaschinerie zu werden, die drohende Marginalisierung durch andere Institutionen war. Dies ist allerdings eine apodiktische Behauptung, die nicht weiter überprüft wird und keinen Raum für andere Deutungen bzw. Motive lässt. Wir haben es mit einer funktionalistischen Argumentation zu tun, in der die Subjekte der Ratio der Institution unterworfen werden, ohne dass ihre Beweggründe geprüft würden. Es bleibt kein Platz für Nationalismus und Antisemitismus, für Karrierebestrebungen oder Eitelkeiten, für Rationalisierungen oder die Aneignung von neuenWahrheiten, wenn ein Primat der Institutionenlogik postuliert wird. Um nicht falsch verstanden zu werden: Vermisst wird nicht die Perspektive einesautonomen Subjekts, vermisst werden sozioökonomische, kulturelle oder auch diskursive Ableitungen und Einbettungen menschlichen Handelns. Aber selbst wenn wir bei einer reinen Institutionengeschichte bleiben, fehlt auch hier die Kontextualisierung und die Frage nach demVerhalten‘ anderer, von der Marginalisierung betroffener Ämter in der vielschichtigen, sich ständig verschiebenden Ämterhierarchie, die Hitlers Manipulationen unterworfen war. Eine Einordnung in das Institutionengeflecht des NS-Staates wird nicht vorgenommen, die Spezifik totalitärer Herrschaft und Machtpolitik nicht erläutert. Unbehandelt bleibt auch die Frage, inwieweit eine Institution einenWillen‘ entwickeln kann, wie eineraison dinstitutionentsteht, welcher Akteure und welcher Umstände es dafür bedarf. Letztlich wird weder ein struktur- oder institutionengeschichtliches Instrumentarium eingesetzt, um ein erhellendes Bild des Amtes als Teil der NS-Verwaltung zu erhalten, noch kommen Hermeneutik oder Diskursanalyse zum Einsatz, um die diplomatische Elite und ihren Wandel im NS-Staat als sozio-kulturelle Gruppe umfassend zu skizzieren. DieHerausforderung(S. 14), individuelles Verhalten und strukturelle Rahmenbedingungen zu verknüpfen, wurde nicht bewältigt.

Es stellt sich die Frage, wozu dieses Buch gut ist, auch wenn sich die Rezensenten einig sind, dass der zweite Teil zur Zeit nach 1945 der wesentlich bessere ist, der im Gegensatz zum ersten auch neue Erkenntnis birgt. Michael Mayer, Johannes Hürter und Bernard Wiaderny sinnen darüber nach, ob das Werk wenigstens alsSteinbruch für zukünftige Forschungenoder als Ersatz für den noch fehlenden Band 4S–ZdesBiographischen Handbuchs des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945dienen könne, verwerfen aber wegen Ungenauigkeiten von Amtsbezeichnungen bzw. Zuständigkeiten und teils falschen Angaben im Namensindex auch diesen Gedanken.11 Dennoch sind sich mit Evans12 und Browning viele der Rezensenten einig, dass dies ein wichtiges Buch ist, das dringend nötig war:Wie es erst der Wehrmachtsausstellung in den neunziger Jahren bedurfte, um den Mythos dersauberenWehrmacht zu zerstören, […] bedurfte es dieses mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit bedachten Kommissionsberichts, um den Mythos zu zerstören, wonach das Auswärtige Amt nicht an den Verbrechen des Dritten Reichs beteiligt, sondern ein Zentrum des Widerstands gegen die Nationalsozialisten gewesen sei […].13 Damit ist die Bedeutung dieses Buches aber nicht in der Wissenschaft, sondern in der öffentlichen Debatte zu suchen. Ganz offenbar gibt es eine Ungleichzeitigkeit von wissenschaftlicher Erkenntnis, die seit 1978 mit Brownings Buch vorlag, und öffentlichem Diskurs, der erst 2010 mit dem Kommissionsbericht nachhaltig erschüttert wurde. Es stellt sich zum einen die Frage, warum der Transmissionsriemen zwischen Historikern und Öffentlichkeit immer noch so schlecht funktioniert, und zum anderen, ob es nicht Studien geben kann, die beides leisten: die breite Mehrheit aufzuklären und auf der Höhe der wissenschaftlichen Debatte mit historischen und nicht juristischen Fragestellungen neue Erkenntnis zu erzeugen. Muss eine aus öffentlicher Hand finanzierte Untersuchung automatisch dasSchuldig oder nicht schuldigaus dem Konflikt des grünen Außenministers mit seinen langgedienten Diplomaten als Leitlinie übernehmen, anstatt sich auf das geschichtswissenschaftlicheWie war es möglichund Warumzu konzentrieren? Dies ist ein ähnlicher Fall wie die Debatte um das Schwarzbuch des Kommunismusvon 1998, als gestritten wurde, wofür eineGeschichte mit dem Taschenrechnergut sei, welche die Opfer addiere und weder verstehen noch erklären wolle. Es ist fraglich, ob die konzeptionellen Schwächen der Studie allein auf die kurze Bearbeitungsfrist von drei Jahren und die Tatsache zu schieben ist, dass bedeutende Passagen von Doktoranden geschrieben wurden (S. 720). Dass sich der über 800 Seiten starke Kommissionsbericht für mehrere Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste hielt, spricht auch nicht für die These, dass der breiten Öffentlichkeit keine langen, komplexen Erörterungen zuzumuten seien. Was immer noch fehlt und sicher im Rahmen dieser Studie hätte geleistet werden können, ist eine umfassende Untersuchung des Auswärtigen Amtes, der auswärtigen Politik und der diplomatischen Kultur. Praktizierten Ribbentrop und dieneuen‘ Diplomaten einen anderen Stil in der Außenpolitik und wenn ja, wie sah er aus? Können hier Parallelen zu diplomatischen Praktiken unter Mussolini und Stalin gezogen werden? Wie muss ein von der Parteigesinnung getragenes diplomatisches Comment charakterisiert werden? Weiter fehlen immer noch grundlegende Biographien von Ribbentrop, Schulenburg, Johnny Hervarth oder Gustav Hilger, um nur einige wenige zu nennen. Gerade die Moskau-Experten sind im Kommissionsbericht entstellend verkürzt vorgestellt. Weiß man nicht, dass Hilger in Moskau geboren wurde und sich in Russland genauso beheimatet fühlte wie in Deutschland, so versteht man nicht die hilflosen, bald resignierten Rufe dieser Diplomaten, dieOstarbeiterschonender zu behandeln (S. 206). Im Bericht steht diese Sorge undkritische Haltungder Sowjetunionexperten unvermittelt und unerläutert neben der Zustimmung anderer Diplomaten, die Brutalität und Völkerrechtsverstöße rechtfertigten (S. 205 ff).

Es wäre nur zu wünschenswert, die nächste solche Auftragsstudie würde es unternehmen, nicht nur die Öffentlichkeit über historische Verbrechen und Mythenbildung aufzuklären, sondern dem breiten Publikum auch zu vermitteln, dass Geschichtswissenschaft immer der Versuch ist, Menschen in ihren Handlungen zu verstehen.

Susanne Schattenberg, Bremen

Zitierweise: Susanne Schattenberg über: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. Unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshoff. München: Blessing, 2010. 879 S. ISBN: 978-3-89667-430-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Schattenberg_Conze_Das_Amt_und_die_Vergangenheit.html (Datum des Seitenbesuchs)

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1Christopher Browning Das Ende aller Vertuschung, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.12.2010).

2Michael Mayer Rezension zu: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: sehepunkte – Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften 11 (2011) 4, S. 2.

3Richard J. Evans The German Foreign Office and the Nazi Past, in: Neue Politische Literatur 56 (2011), S. 165–183, hier S. 175.

4Johannes Hürter Das Auswärtige Amt, die NS-Diktatur und der Holocaust. Kritische Bemerkungen zu einem Kommissionsbericht, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (2011) 2, S. 167–192, hier S. 176.

5Stefan Troebst Rezension zu: Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: H-Soz-u-Kult (15.02.2011), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2011-1-108 (29.5.2013).

6Evans The German Foreign Office, S. 173.

7Bernard Wiaderny Rezension zu Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann: Das Amt und die Vergangenheit, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 61 (2012) 1, S. 118–121, hier S. 119; Troebst Das Amt und die Vergangenheit.

8Rainer Blasius Schnellbrief und Braunbuch. DieUnabhängige Historikerkommissiondes Auswärtigen Amts verletzt wissenschaftliche Standards und pflegt Vorurteile, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (13.01.2011); Hürter Das Auswärtige Amt, S. 183.

9Evans The German Foreign Office, S. 183.

10Hans Mommsen Das ganze Ausmaß der Verstrickung, in: Frankfurter Rundschau (16.11.2010).

11Hürter Das Auswärtige Amt, S. 171–172; Mayer Das Amt; Wiaderny Das Amt, S. 120.

12Evans The German Foreign Office, S. 182.

13Browning Das Ende aller Vertuschung.