Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

Herausgegeben im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Band 58 (2010) H. 4, S.  607–608

S. F. Sokal, A. M. Januškevič (Navuk. rėd.) Parlamenckija struktury ŭlady ŭ sistėme dzjar­žaŭ­naha kiravannja Vjalikaha knjastva Litoŭska­ha i Rėčy Paspalitaj u XV–XVIII stahod­dzjach. Matėryjaly mižnarodnaj navukovaj kanfe­rėncyi (Minsk – Navahradak, 23–24 listapada 2007 h.) [Parlamentarische Herrschaftsstrukturen im staatlichen Verwaltungssystem des Groß­fürstentums Litauen und der Rzeczpospolita vom 15. bis 18. Jahrhundert. Materialien der Internationalen Konferenz vom 23.–24. November 2007 in Minsk und Navahradak]. Navuk. rėd. S. F. Sokal, A. M. Januškevič. BIP-S PLJUS Minsk 2008. 372 S. ISBN: 978-985-6836-81-0.

Im Jahr 2007 haben das BIP-Institut für Rechtswissenschaft, das Polnische Institut sowie die litauische Botschaft in Minsk gemeinsam die dem Band zugrunde liegende internationale Konferenz anlässlich des Gedenkens des „ersten allgemeinen Sejms“ der Länder des Großfürstentums Litauen von 1507 veranstaltet. Das anonyme Vorwort hebt hervor, das angeblich „einmalige Modell der ‚Adelsdemokratie‘“ stelle das „gemeinsame Erbe“ Polens, Litauens und Weißrusslands dar (S. 8). Wie unterschiedlich sich die modernen nationalen Historiographien trotz der Zusammenarbeit im Umgang mit diesem Erbe immer noch darstellen, bezeugen bereits die beiden ersten Beiträge: Taisija Doŭnar stellt in ihrem Abriss der Ursprünge der Reichstage des Großfürstentums im 16. Jh. diese in einen ursächlichen Zusammenhang mit den veče, den Volksversammlungen der Burgstädte der Rus’, bzw. auf dem Gebiet des Großfürstentums namentlich derjenigen von Polack. Die Stryjkowski entlehnte Passage „Vom Polocker Venedig“ sieht sie weiterhin als Beleg für die Existenz solcher Versammlungen im 12. und 13. Jahrhundert, anstatt sie als humanistische politische Rhetorik und Teil der während der Renaissance erneuerten Erinnerungskultur an idealisierte antike Stadtrepubliken zu lesen. Lidia Korczak dagegen bezeichnet in ihrer vergleichenden Skizze der Entstehung des „litauischen Parlamentarismus“ die Herleitung der Versammlungen des 16. Jahrhunderts vom veče als „längst widerlegte“ These: Sie erklärt die Versammlungen des 16. Jahrhunderts mit ständestaatlichen Einflüssen „aus dem lateinischen Kulturkreis“ (S. 29–30). Trotz der Nähe zur Entwicklung in der Krone Polen erkennt sie allerdings für das Großfürstentum einen „eigenen Weg“ der Ausgestaltung der Reichstage (S. 40). Die übrigen Beiträge behandeln Konflikte zwischen Abgesandten aus Wolhynien und Žemaiten (Aljaksej Ša­landa), die gesetzgebende Tätigkeit von Vicebsker Regionalversammlungen (Vasil’ Va­ro­nin), Bittschreiben von Vertretern Wolhyniens (Vo­lodymyr Poliščuk), eine Einschätzung des „allgemeinen Sejm“ von 1563 vor dem Hintergrund des Livländischen Krieges und innerer Reformen (Andrėj Januškevič), Amtsmänner der Landgerichte des Großfürstentums als Teilnehmer von Reichstagen (Darjus Vilimas), Beziehungen zwischen dem König und den Adelsversammlungen im Großfürstentum (Andrzej B. Za­krzewski), Landtage Wolhyniens (Natalja Starčenko) sowie die politische und soziale Kar­riere von Dzmitryj Chalecki zu „einem der aktivsten Parlamentarier“ des Commonwealth (Ula­dzimir Padalinski). Tomasz Kempa konkretisiert die Zusammenarbeit von Protestanten und Orthodoxen auf Landtagen und Reichstagen, Pavel Lojka die Teilhabe der Landtage der „belarussischen Länder“ an der Lenkung der Adels­republik. Andrzej Rachuba zeigt, dass die Landtage des Großfürstentums jeweils in großfürstlichen Schlössern und Höfen abgehalten wurden. Anna Choroškevič beleuchtet den Fall eines „polnischen Deutschen“ vor dem Gericht der moskovitischen Bojarenduma. Henryk Lu­le­wicz untersucht informelle Zusammenkünfte von Senatoren und Adligen 1595–1596, Andrėj Ra­daman militärische Adelsversammlungen im Kreis Navahrudak, Janusz Dorobisz die Mitwirkung des Woiwoden Janusz Skumin Tyszkiewicz an Unterhandlungen mit Schweden. Petro Kulakovs’kyj umreißt die Vertretung Wolhyniens und Vital’ Halubovič diejenige des Großfürstentums auf den Reichstagen der dreißiger und vierziger Jahre des 17. Jahrhunderts. Des weiteren wird die Partei der Sapieha auf den Reichstagen von 1654 (Mariusz Sawicki) dargestellt, wie auch das Abstimmungs­verhalten der Teilnehmer des Landtags von Rėčyca 1706 (Robertas Jurgajtis), Heeresauktionen im 18. Jahrhundert (Tomasz Ciesiel­ski), die litauischen Gesandten an den Reichstag von 1761 (Andrėj Macuk), Probleme der Umsetzung der Reformen des vierjährigen Sejms 1788–1792 (Ramunė Šmigelskytė-Stukienė) sowie schließlich die Rolle des letzteren als „Schule des Parlamentarismus“ für den Adel des Vielvölkerreiches (Richard Butterwick). Die knappen Detailstudien geben einen vielfältigen Einblick in den Forschungsstand, der durch die systematische Anwendung von Ansätzen zur Erforschung politischer Kommunikation bzw. der Diskursanalyse ständischer Sprach- und Handlungsfelder analog zur Erforschung polnischer und insgesamt mitteleuropäischer ständischer Versammlungen weiter vorangetrieben werden könnte.

Stefan Rohdewald, Passau

Zitierweise: Stefan Rohdewald über: Parlamenckija struktury ŭlady ŭ sistėme dzjaržaŭnaha kiravannja Vjalikaha knjastva Litoŭskaha i Rėčy Paspalitaj u XV–XVIII stahoddzjach. Matėryjaly mižnarodnaj navukovaj kanferėncyi (Minsk – Navahradak, 23–24 listapada 2007 h.) [Die parlamentarischen Herrschaftsstrukturen im staatlichen Verwaltungssystem des Großfürstentums Litauen und der Rzeczpospolita vom 15. bis 18. Jahrhundert. Materialien der Internationalen Konferenz vom 23.–24. November 2007 in Minsk und Navahradak]. Navuk. rėd. S. F. Sokal, A. M. Januškevič. BIP-S PLJUS Minsk 2008. ISBN: 978-985-6836-81-0, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Neue Folge, 58 (2010) H. 4, S. 607–608: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Rohdewald_Parlamenckija_struktury.html (Datum des Seitenbesuchs)