Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg
herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz
Ausgabe: 59 (2011) H.4
Verfasst von: Gert von Pistohlkors
Anja Wilhelmi: Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800–1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien. Wiesbaden: Harrassowitz, 2008. 424 S., 2 Tab. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 10. ISBN: 978-3-447-05830-8.
Die von Norbert Angermann geförderte Hamburger Dissertation aus dem Jahr 2005 weist einige Besonderheiten auf. Die Verfasserin stützt sich nahezu ausschließlich auf gedruckte und ungedruckte Autobiographien – jeweils ca. 70 – nicht auf Briefe und Tagebücher, und verteidigt diese einseitige Auswahl von Quellen mit einer modernen Autobiographie-Forschung, die sie einleitend knapp vorstellt (S. 23–24). Die sehr heterogenen autobiographischen Texte werden nach der chronologischen und gesellschaftlichen Einbettung der Schreibenden, der Motivation und Intention der betreffenden Frau sowie nach der Adressatengruppe – z.B. jüngere Familienangehörige – differenziert. Auf diese Weise sollen Einsichten in sich wandelnde „weibliche Lebenswelten“ der deutschen Oberschicht, in Mentalitätsbrüche und in gewandelte Identitätsfindungsprozesse (S. 20) gewonnen werden. Zum anderen wagt sich die Autorin trotz oder gerade wegen der Einsicht, dass persönliche Erinnerungen in der bisherigen Forschung im Hinblick auf ihren Quellenwert eher kritisch betrachtet werden, an einen riesigen Zeitraum von beinahe fünf Generationen. Um 1800 beginnen sehr zögerlich die schriftlich fixierten, autobiographisch genutzten Rückerinnerungen der wenigen Gewährsfrauen, die Themen des 19. Jahrhunderts bis etwa 1880 darstellen; ein gewisser Nachdruck liegt auf dem ausgehenden 19. Jahrhundert – besonders auf der Russifizierung – unter Einschluss der revolutionären Krise von 1905/06 und der Situation der deutschbaltischen Minderheit nach 1919.
Obwohl zahlreiche Damen aus der baltischen Oberschicht nach dem Verlust ihrer Heimat und aus einem riesigen zeitlichen Abstand heraus erst unter dem Eindruck des völlig veränderten Lebens in der Nachkriegszeit zur Feder gegriffen haben – knapp zwei Drittel der vorliegenden Erinnerungen wurden nach 1945 abgefasst –, nimmt Anja Wilhelmi den Bruch mit dem bisherigen historischen Raum zum Anlass, um 1939 mit der Umsiedlung der Deutschbalten einen definitiven Schlussstrich zu ziehen. Unter der Überschrift „Kurzcharakterisierung der benutzten Autobiografien“ (S. 335–372) führt sie über 120 Damen der deutschen Oberschicht zum Teil mit mehreren autobiografischen Titeln auf, von denen nur etwa 10 % Erinnerungen vor dem Jahr 1900 schriftlich fixiert haben; knapp 30 % zeichneten ihre Erinnerungen zwischen 1900 und 1939 auf; immerhin ca. 60 % meldeten sich jedoch erst im hohen Alter und zumeist nach der Eingliederung in eine völlig neue Umwelt nach 1945 zu Wort. Dass diese Quellenlage äußerst behutsame Wertungen erfordert, ist der Verfasserin durchaus bewusst. Es kann unter diesen Voraussetzungen jedoch nicht immer auf schlüssige Weise gelingen, nachträgliche Rationalisierungen der Autobiographinnen eindeutig zu erkennen, so dass bei aller Anerkennung der Interpretationskunst der Verfasserin Fragen an die Reichweite ihrer Ergebnisse und notwendigen Verallgemeinerungen zum Teil offen bleiben.
Im Unterschied zu dem grundlegenden Buch von Heide Whelan Adapting to Modernity. Family, Class and Capitalism among the Baltic German Nobility aus dem Jahr 1999, das die Verfasserin zu Unrecht nur als „eine erste regionale Bestandsaufnahme unter modernen sozialgeschichtlichen Forschungsaspekten“ (S. 16) qualifiziert, wirken bei Anja Wilhelmi die „Lebenswelten“ ihrer Protagonistinnen wegen des zumeist fehlenden unmittelbaren Bezugs zur zeitgleichen realen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte der Ostseeprovinzen Russlands und der Republiken Estland und Lettland doch eher wie nachträgliche Konstrukte. Whelan verbindet mit ihren Kapiteln zur Sozial- und Familienstruktur und zur politischen Selbsteinschätzung der Ritterschaften in den Ostseeprovinzen Russlands zwischen Russifizierung, Reform und Revolution eine klare Chronologie des Zeitabschnitts zwischen 1800 und 1914 auf dem Weg von der festen ständischen Ordnung hin zur schmerzhaften Einbeziehung in „Modernity“, die sie im Kontext mit der Furcht vor der Macht der russischen Bürokratie, den Folgen der Teilnahme am wirtschaftlichen Umbau des Russländischen Reiches vor 1914 und dem wachsenden Druck auf die rechts- und selbstbewussten Ritterschaften anschaulich beschreibt. Daraus erklärt sie vor allem den Zwang zum Umdenken unter den männlichen wie weiblichen Angehörigen der Ritterschaften. Anja Wilhelmi hingegen behilft sich unter dem Eindruck ihrer vielseitigen Lektüre von grundlegenden Werken der „gender“- und „ethnicity“-Literatur mit einem einleitenden Kapitel über die Ostseeprovinzen und die Staaten Estland und Lettland. „Ein Überblick in Schwerpunkten“ (S. 29–42) kann jedoch in dieser Kürze nicht befriedigen.
Sehr viel eindrucksvoller gelingt der Autorin hingegen der Hauptteil. In Kapitel 3 kennzeichnet sie anhand ihrer Quellen unter Einschluss von zeitgenössischen Darstellungen aus der „Baltischen Monatsschrift“ (1859–1933) und anderen Zeitschriften die „Frauen in der deutschbaltischen Gesellschaft“ (S. 43–114), wobei sie in Auseinandersetzung mit einer breiten Literatur die Rolle von Töchtern, Ehefrauen, Müttern, Witwen, geschiedenen Frauen und den im baltischen Kontext so wichtigen (unverheirateten) Tanten herausarbeitet. Das Bild der „imaginierten baltischen Frau“ (S. 43ff.) ist allerdings wenig überraschend: Sie ist Garantin der gesellschaftlichen (ständischen) Ordnung, lebt „im Haus“ in einem ländlich oder städtisch großzügig geprägten Umfeld, vertraut der „Geschlechtsvormundschaft“ ihres Vaters bzw. Vormunds und Ehemanns. Sie ist wirtschaftlich gut gestellt, ist wenig mode- oder hygienebewusst, hat kaum Ahnung von Sexualität und einen „Widerwillen gegen Zuchtlosigkeit und Üppigkeit“ (S. 45), und sie verinnerlicht ihre religiöse Bindung, die durchaus in praktische „soziale Segensarbeit“ (S. 45) einmünden kann. Kurz, das Stereotyp läuft auf „stille Wirksamkeit“ jenseits aller Vielwisserei hinaus. Mit Recht konstatiert die Verfasserin, dass diese Imaginationen ihre Entsprechungen bei der bürgerlichen reichsdeutschen Frau im frühen 19. Jahrhundert hatten und auch einem estnischen und lettischen Frauenbild der Zeit entsprachen. Im deutschbaltischen Umfeld hatten sie jedoch eine besonders lange Lebensdauer, trotz mancher Bemühungen um Frauenbildung und Emanzipation. Diskussionen um den Bestand der Großfamilie angesichts beginnender Berufs- und Vereinstätigkeit dauerten bis 1939 an. Die Verfasserin beschäftigt sich im übrigen ausführlich mit den Töchterschulen, dem Hochschulzugang und den Berufschancen von Frauen, welche mit dem Ersten Weltkrieg zunahmen. Im Zentrum der gründlichen Untersuchung steht Kap. 4, das den weiblichen Lebenswelten gewidmet und besonders ausführlich geraten ist (S. 115–317). Hier stützt sich die Verfasserin unter Einbeziehung der einschlägigen, zumeist deutschen familiengeschichtlichen und sozialwissenschaftlichen Literatur ganz auf die genannten Autobiographien und beurteilt dabei die „generationsübergreifende Perspektive“ ihrer Autorinnen angesichts der „zeitlichen Breite“ der Niederschriften überraschend positiv (S. 23). Lebensphasen zwischen Geburt, Verhältnis zu den Eltern, Konfirmation, Kontakt zum männlichen Geschlecht, Heirat, Eheleben, Ehekrisen, Mutterschaft, eigenem und fremdem Haushalt, nationaler und ständischer Identität, Loyalitätsfragen und Verlusten stehen im Mittelpunkt. Manches tritt im Längsschnitt der unterschiedlichen Texte tatsächlich deutlich zutage. So wandelte sich z.B. das Verständnis der Konfirmation im Lauf der Zeit beträchtlich (S. 175–180): Im 19. Jahrhundert war die „baltische Konfirmation“ mit 17 Jahren für die meisten Mädchen ein Wendepunkt des Lebens, der Höhepunkt einer christlich-lutherischen Lehrzeit, auch die unmittelbare Voraussetzung für die Hoffnung auf eine baldige romantische Verlobung und Heirat. Für spätere Konfirmandinnen waren das Kleid und die erhoffte Teilnahme an der bevorstehenden Ballsaison zuweilen wichtiger. Der Unterricht wurde zunehmend als Zeit der Reglementierung empfunden. Das ausdifferenzierte Lebensphasenmodell soll der Zusammenfassung zufolge (S. 318–334) in der Summe „Einblicke in die Lebenswelten der Deutschbaltinnen gewähren“ (S. 318). Dieses Ziel wird ohne Zweifel erreicht. Es bleibt jedoch fraglich, ob auf einer derartigen Quellengrundlage mehr erreicht werden konnte als die Schilderung und Charakterisierung unterschiedlicher Lebensbilder.
Zitierweise: Gert von Pistohlkors über: Anja Wilhelmi Lebenswelten von Frauen der deutschen Oberschicht im Baltikum (1800–1939). Eine Untersuchung anhand von Autobiografien. HarrassowitzVerlag Wiesbaden 2008. = Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, 10. ISBN: 978-3-447-05830-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Pistohlkors_Wilhelmi_Lebenswelten_von_Frauen.html (Datum des Seitenbesuchs)
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